Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
sie fester, als er erwartet hatte. Es fiel ihr offenbar schwer, den Schritt zu tun, vielleicht wäre es ihr lieber, er täte es. Aber Carl lächelte nur. Nein, sie sollte selbst auf ihre Fragen antworten dürfen, und dann würde er den Seidenbeutel hervorholen.
Ihre Antwort kam unerwartet und ohne Eifer und Glut. »Ich fürchte, es würde nicht viel ändern. Ich glaube, uns würde der Stoff ausgehen. Und der gute Sex, den wir manchmal haben, der würde schnell seltener werden, oder? Du bist uns und dir selbst in letzter Zeit fremd geworden, Carl. Und wer weiß, vielleicht ist es gut, dass sich das jetzt, zu diesem Zeitpunkt, zeigt. Du vergisst unsere Verabredungen, Carl, und oft, wenn du mit meiner Tochter und meinem Enkel zusammen bist, wirkst du abwesend. Du nimmst mich nicht mehr so wahr wie früher, und du siehst auch deiner eigenen Situation nicht ins Auge. Und ganz entgegen unserer Absprache hast du deine Therapie abgebrochen. Mir fehlt die Entwicklung, Carl, und das schon seit Langem. Ja, lange genug, wenn ich ehrlich bin. Deshalb finde ich, dass wir das jetzt beenden sollten.«
Carl wurde es eiskalt. Er hätte gern etwas Substanzielles von sich gegeben, aber er fühlte sich außer Gefecht gesetzt. Ging es ihr wirklich so mit ihm? Er schüttelte den Kopf. Seine Gedanken rannten im Kreis, und er bekam kein Wort heraus. Mona hingegen sah kein bisschen angegriffen aus von der Situation. Sie wirkte klar und entschlossen – etwas, wofür er sie eigentlich liebte.
»Ich weiß nicht, warum wir dieses Gespräch so lange aufgeschobenhaben, schließlich ist es doch mein Beruf, solche Gespräche zu führen, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Aber nun müssen wir endlich in Gang kommen, denn wir beide werden nicht jünger, oder, Carl?«
Mit einer Handbewegung bat er sie, einen Moment still zu sein, und versuchte, sich zu sammeln. Und dann erklärte er ihr unter höchster Anspannung seine Sicht der Dinge. Dass es doch bisher trotz allem ganz gut gelaufen sei. Dass selbstverständlich auch er sich seinen Teil gedacht habe. Dabei achtete er auf jedes Wort, auf jede Betonung, auf jede Pause, um ja nicht voreilig oder überstürzt zu wirken. Herr im Himmel, was setzte er seine Pausen vorsichtig.
Am Ende wirkte sie erweicht und nachgiebig. Als sei die ganze Misere nur eine Art Halbzeitkrise. Als sei es ihr wichtig gewesen, das alles von ihm selbst zu hören. Da erlaubte er sich, ein wenig zu lächeln, und schloss mit den Worten, die man in solchen Situationen notwendigerweise allen gleichberechtigten Menschen anbot: »Ich bin also ganz Ohr für all deine Vorschläge, Mona.« Und für einen ultrakurzen Moment hatte er tatsächlich das lebhafte Gefühl, wieder mitzumischen. Schon bald würde sie ihre Worte bereuen und ihre Bedenken aufgeben, und dann würde die Antwort schon in Form eines kleinen, aber sehr erlesen gefüllten Seidenbeutels bereitliegen.
Sie lächelte verhalten und nickte zurück. Aber statt sich mit ihm in der Mitte zu treffen, dort, wo jeder verspricht, sich Mühe zu geben, sich darauf zu konzentrieren, die Gemeinsamkeit zu entwickeln, und sich gegenseitig den Raum für Spontanität zu lassen, wendete sie seine Worte gegen ihn.
»Gut, Carl. Danke. Dann schlage ich vor, dass wir uns in Zukunft jeder um sein eigenes Leben kümmern.«
Der Satz traf ihn wie ein Rammbock. Knock-out. Von einer Sekunde zur anderen war er komplett entmutigt, was Selbstverständnis und Wirklichkeitsauffassung anging. In diesemAugenblick kannte er die Frau ihm gegenüber überhaupt nicht.
Und so war der Seidenbeutel nie zum Einsatz gekommen.
Es wurde einer dieser Morgen, an denen er unendlich lange brauchte, um auch nur ansatzweise wieder er selbst zu werden. Wie er überhaupt den Weg in die Stadt fand, war ihm ein Rätsel. Rote Rücklichter und die Erinnerung an Monas Augen, als sie ihn aus ihrem Leben wischte – das war alles, was er erfasste.
Er schichtete die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch so um, dass er bequem Platz für die Beine hatte, um wenigstens einen Teil des entgangenen Nachtschlafs nachzuholen. Aber kaum hatte er sich gesetzt, stand Rose vor ihm und keifte ihn wegen der Suchmeldung an, die sie ihm am Vortag gezeigt hatte.
Gestern? Als wenn er gedanklich auch nur in die Nähe dieses verdammten Tages kommen wollte!
Aber dann gab er sich einen Ruck, immerhin befand er sich an einem Arbeitsplatz. Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Gedanken wollten das Gleis, das um Mona kreiste, einfach nicht
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