Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
streckenweise sicher hübsch unübersichtlich. Zum Beispiel hätte William Stark aus Abenteuerlust abhauen können. Weil er vom nervigen Alltag zu Hause die Nase voll hatte. Von den Kollegen und der Arbeit. Von der Dunkelheit und Kälte und dem politischen Klima in Dänemark. Oder weil er das Bedürfnis nach mehr Sex hatte. Vielleicht eine Vorliebe für dunkelhäutige junge Mädchen … soll’s doch alles geben.« Sie machte eine Pause, um dem nun folgenden Satz mehr Gewicht zu verleihen. »Oder vielleicht auch für dunkelhäutige junge Männer? Er kann Geheimnisse gehabt haben – wie wir alle.«
Carl nickte. Sie wusste bestimmt, wovon sie redete.
Er sah zu Assad hinüber. Auch der nickte, aber eher zögernd. Wie ein ausgefuchster Krimineller, der sich darüber im Klaren ist, dass er seine Erklärungen so dicht wie möglich an der Wahrheit halten muss, aber auch genau weiß, wann es Zeit ist, sich zurückzuhalten.
Es war ein sehr sonderbares Nicken.
»Hatte Stark Geheimnisse, was glaubst du?«
Sie zuckte die Achseln. »Wer weiß? Aber Tatsache ist doch, dass er eben nicht in Afrika verschwunden ist. Und das ist es, was mich verrückt macht. Er kam zurück nach Dänemark, Carl! Er war nur wenige Stunden in Kamerun, dann hat er seineneigentlichen Rückflug annulliert und sich ein vorgezogenes Rückflugticket gekauft. Und der Flieger landet wie geplant am Flughafen Kastrup, und Stark ist an Bord. Wir haben die Passagierliste der Fluggesellschaft und zwei Überwachungsvideos, die zeigen, wie er sein Gepäck holt und davonrollt. Und plötzlich ist er weg. Wie vom Erdboden verschluckt.«
Carl versuchte, das Geschehen im Geiste zu rekapitulieren. »Er könnte ganz besonders clever gewesen sein. Die Suchscheinwerfer sind auf Dänemark gerichtet, da er hier verschwindet, aber genau wie Sverre Anweiler könnte er unmittelbar nach der Landung über die Öresundbrücke gefahren sein. Vielleicht ist Stark irgendwo in den endlosen schwedischen Wäldern untergetaucht? Oder ist mit falschen Papieren direkt zurück nach Afrika oder noch woandershin geflogen.«
»Darüber haben Rose und ich auch schon spekuliert, Carl«, wandte Assad ein. »Hatte Stark Feinde? War er ein Spielertyp? War er in irgendwelche größeren Lügengeschichten verstrickt? Hatte er etwas in Dänemark vergessen und kam deshalb zurück? Musste er in Kopenhagen vielleicht noch Geld loseisen? Gab es eine andere Frau, die mitkommen sollte? Wir haben all das rauf und runter diskutiert, aber es ist einfach nicht sehr wahrscheinlich.«
Carl schob die Unterlippe vor. Die beiden legten sich wirklich irre ins Zeug für diesen Fall, das musste man ihnen lassen.
»Wir haben also nicht viel, wo wir einhaken können, stimmt’s? Was sagt der Bericht? Gibt es irgendetwas, das in die eine oder andere Richtung deuten könnte, wo bisher noch nicht recherchiert wurde?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Na, aber was haben wir denn dann? Haben wir überhaupt etwas?« Ginge es nach ihm, würde das eine extrem kurze Ermittlung.
»William Stark ist nicht für tot erklärt worden«, sagte Rose mit gesenktem Kopf.
»Nein, Rose, natürlich nicht. Es sind noch keine fünf Jahre vergangen.«
»Und sein Haus steht noch, weitgehend unverändert. Und was noch besser ist: Ich habe mir von der Wache Bellahøj einen Satz Haustürschlüssel schicken lassen. Das Haus wurde nämlich irgendwann versiegelt.«
Carl hob die Augenbrauen. Der Spürhund wedelt mit dem Schwanz, sobald er eine Fährte aufnimmt, und genau diese instinktive, ungestüme Neugier hatte Rose mit diesem einen Satz in ihm geweckt.
Ach, verdammt.
»Okay«, sagte er und griff hinter sich nach seiner Jacke. »Dann wollen wir mal.«
14
Marco war ein einziges Nervenbündel. Bei jedem Schatten, bei jedem noch so leisen Geräusch zuckte er zusammen. Er war wieder in Østerbro, denn Zola hatte ihnen eingeschärft, niemals dorthin zurückzukehren, wo man einmal entdeckt worden war. Also war Østerbro vermutlich der Teil der Stadt, in dem sie nicht nach ihm suchen würden.
Um ein paar Stunden Ruhe zu finden, auch vor seinen Ängsten, verkroch er sich spät in der Nacht in einen Müllcontainer.
Wenn sie ihn in die Finger bekamen, ging es mit Sicherheit nicht mehr nur darum, ihn zum Krüppel zu machen. Schließlich hatte ihn Zola bereits kurz nach seiner Flucht buchstäblich zum Abschuss freigegeben.
Geweckt wurde er von einem Penner, der den Containerdeckel öffnete und den Schock seines Lebens bekam, als Marco ihm
Weitere Kostenlose Bücher