Erzaehl es niemandem
die ihr weinendes Kind auf dem Arm trägt, fragt,
ob sie ein Stück mitfahren kann. Es ist Frau Jörgensen, die die Berthungs schon
lange kennen. Lillian setzt sich nach hinten und nimmt das kleine Mädchen auf
den Schoß. Das Kind beruhigt sich allmählich und schläft nach ein paar Minuten
ein. Der Vater spricht leise mit Frau Jörgensen.
»Das Grand Hotel, in dem die Alliierten ihre Büros haben, ist
getroffen, ich habe es brennen sehen, als ich vorbeifuhr.«
»Verdammter Krieg, verdammte Deutsche …« Frau Jörgensens Mann ist
irgendwo an der Front, und sie hat schon über zwei Wochen nichts von ihm
gehört. Nach 20 Minuten sind sie am See angekommen. Frau Jörgensen geht mit
ihrem Mädchen zu Fuß weiter. Lillian und ihr Vater eilen hinunter zum See. John
schiebt den Kahn ins Wasser. Die Ruderblätter bringen Bewegung in den stillen
Steinsåsvann. Lillian nimmt die Ruhe nach dem Getöse und Geschrei der letzten
Stunde nun ganz besonders wahr.
»Wie schön und friedlich es hier ist …«
Ihr Vater spricht wohl mehr zu sich selbst. Seine Stimme klingt
gebrochen. Lillian weiß, als er sein Gesicht abwendet, dass sie seinen Kummer
nicht sehen soll.
Am Bootssteg wartet die Mutter mit Pus und Bjørn. Als sie hört, was
ihr Mann und ihre älteste Tochter erlebt haben, beginnt sie zu weinen. »Dass
wir jemals in Harstad so etwas erleben müssen! Krieg in unserem Norwegen!« Sie
drückt Pus und Bjørn an sich: »Wenn nur John wieder zu Hause wäre!« Sie muss
sich damit abfinden, dass ihr Ältester von dem freiwilligen Einsatz immer noch
nicht zurückgekehrt ist.
Solstad
Frühjahr 1940
In diesen Kriegswochen gibt es für Lillian einen Ort, zu
dem es sie besonders hinzieht. Es ist das Haus ihrer Großeltern auf Solstad,
eine halbe Stunde Fußweg von der Halvdansgate entfernt. Der Mittelpunkt und
ruhende Pol auf Solstad ist Othilie, und die Ausstrahlung ihrer Großmutter
wirkt auf Lillian gerade in dieser Zeit wohltuend und beruhigend. Lillian liebt
ihre Bestemor 27 sehr
und hat sie immer dafür bewundert, wie sie sich für Menschen in Not stark macht
und ihnen hilft.
Das weinrote Holzhaus mit den weiß ummalten Fenstern und dem
vorgebauten Altan 28 liegt am Ende eines steilen Weges, der von der Straße hinaufführt. Von dort
geht der Blick über den Vågsfjord, auf dem jetzt die Kriegsschiffe der Engländer
liegen, bis zu den schneebedeckten Bergen bei Narvik, wo sich der General Dietl
und seine Gebirgsjäger erbitterte Kämpfe mit den Truppen der Alliierten
liefern.
Auf Solstad ist Lillians Mutter Annie mit sieben anderen Geschwistern
groß geworden. Später kamen noch zwei Pflegekinder dazu. Und weil Othilie und
Jørgen Solstad großen Wert darauf legten, dass auch ihre Töchter eine gute
Ausbildung bekamen, wurde Annie mit 17 Jahren ins weit entfernte Oslo auf die Treider-Handelsskole geschickt und Olga, die Schwester, nach Volda auf die Lehrerinnen-Schule.
Doch Olga starb früh. Die spanische Grippe, die überall in Europa
grassierte, war im Sommer 1918 auch nach Norwegen gekommen. Olga erkrankte an
der Pandemie und erlag ihr mit nur 21 Jahren.
Als Lillian zur Welt kommt, will Annie ihre Tochter eigentlich nach
der verstorbenen Schwester nennen, aber John kann sich damit nicht so recht
anfreunden. Und so einigt man sich schließlich darauf, dass Lillian zusätzlich
zumindest Olgas zweiten Namen erhält, Hjørdis.
In diesem Frühling 1940 haben die ersten Flüchtlinge aus Narvik
und Bjerkvik Unterkunft in Solstad gefunden, denn Großmutter Solstad hilft auch
jetzt ganz selbstverständlich, wo sie nur helfen kann.
»Wir müssen nun zusammenrücken«, sagt sie zu ihrem Mann, »Solstad
hat Platz für viele.« Die Flüchtlinge schlafen im Stall auf den Heuschobern,
aber tagsüber finden sie Platz im Haus. Die große Küche ist der Mittelpunkt,
denn hier können sich die Menschen ihre eigenen Mahlzeiten zubereiten. Das gibt
ihnen das Gefühl, ihr Leben zumindest am Herd noch in der eigenen Hand zu
haben.
Die vielen Stühle um den Esstisch vor dem großen Fenster sind in
diesen Tagen fast immer besetzt, und das Radio läuft den ganzen Tag. Alle sind
still, wenn die Nachrichten gesendet werden. Die Flüchtlinge aus Bjerkvik und
Narvik haben ihre Häuser in Flammen aufgehen sehen, »aber«, so sagt eine Frau,
»wir leben und hoffen, dass wir zurückkehren können, um alles wieder
aufzubauen.« Im Gesicht der Frau glaubt Lillian den ungebrochenen Willen ihrer
Landsleute erkennen zu können. Man
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