Erzaehl es niemandem
späten Nachmittag
wurden wir auf offenen Lastwagen zum Schlachthof Derendorf gebracht.
Am 17. September 1944. Dann muss Ilse Kassel-Müller zur selben
Zeit wie meine Großmutter in Düsseldorf gewesen sein! Der Zeitungsartikel ist
aus dem Jahr 2002. Wenn diese Ilse Kassel-Müller damals 19 gewesen ist, dann
wird sie jetzt 85 sein. Falls sie überhaupt noch lebt.
Ich suche im Telefonbuch nach einer Kassel, Ilse in Krefeld, finde
aber für diesen Familiennamen nur männliche Vornamen. Ich mache irgendwo den
Anfang. Es meldet sich eine Frauenstimme.
»Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach einer Ilse Kassel.« Da
sagt die Frau am anderen Ende: »Das bin ich.«
Ich habe mich mit Frau Kassel für Anfang November verabredet.
Vorher aber muss ich zu diesem Schlachthof nach Düsseldorf. Das Gebäude steht
noch. Es liegt auf einem großen Brachgelände, auf dem die Fachhochschule
Düsseldorf irgendwann einen Neubau errichten will. Von der Straße aus ist der
rote Backsteinbau in dem dichten Gestrüpp kaum auszumachen.
Ich steige durch ein Loch im Bauzaun. Ich bin nicht der erste
Besucher. Die Backsteinwände sind voller Graffiti. Auch innen gibt es kaum eine
freie Fläche mehr. Selbst die Pferche und die Tröge sind mit grellen Farben
bemalt. Ein kalter grauer Betonboden, der jetzt von Kippen und Glasscherben
übersät ist. Ich finde überall Hinweise auf wildes Feiern, aber keinen Hinweis
auf grausames Leiden.
Ich versuche mir jene Sonntage vorzustellen, an denen die Schweinepferche
ausgespritzt waren und Männer und Frauen hier zusammengedrängt wurden. Eine
ganze Nacht haben sie hier verbringen müssen. Wie konnte man in dieser Halle
sitzen oder liegen? Auf dem Betonboden, in den Trögen? Wo hat meine Großmutter
wohl gestanden, wo hat sie gelegen? Was ging ihr durch den Kopf? Wie hat sie
das alles ausgehalten?
Als ich aus dem Gebäude komme, sehe ich gegenüber das Stellwerk des
Derendorfer Bahnhofs. Von dort setzten sich am nächsten Tag die Züge Richtung
Osten in Bewegung. Haben die Menschen in diesem Düsseldorfer Stadtteil nicht
mitbekommen, was da mitten in ihrem Viertel geschehen ist? Wie ist es gewesen
an jenem 18. September, auf dem Bahnsteig, nach der »grässlichen Nacht« im
Schlachthof. Wird Frau Kassel es mir erzählen können?
Die Schatten der Vergangenheit fallen nicht von mir ab, als ich
wieder durch das Loch im Bauzaun steige.
Totaler Arbeitseinsatz im totalen Krieg
April 1943
Nach der Niederlage der Deutschen in Stalingrad im Januar
1943 wird nicht nur im Reich der totale Einsatz für den totalen Krieg
gefordert. Schon zwei Wochen vor Goebbels’ Rede am 18. Februar im Sportpalast
hatte Vidkun Quisling eine Ergebenheitsadresse an Hitler geschickt, in der er
betont, dass auch das norwegische Volk durch vermehrte Arbeit zum deutschen
Sieg beitragen wolle.
Reichskommissar Terboven fordert den Ministerpräsidenten auf, alle
notwendigen administrativen und gesetzlichen Maßnahmen zur totalen
Mobilisierung der norwegischen Wirtschaft zu treffen. Dazu soll ein Gesetz der
»nationalen Regierung« über die Arbeitspflicht nach deutschem Vorbild gehören,
das alle Männer zwischen 18 und 55 und alle Frauen zwischen 21 und 40 Jahren
erfassen soll.
Im Februar wird das neue Gesetz bekannt gegeben. Quisling macht
jedem Norweger deutlich, welche Opfer nun zu erbringen seien, »damit das norwegische
Volk geschlossen und ohne Rücksicht auf Geburt und Vermögen, auf Stand und
Stellung alle Kräfte in den Kampf auf Leben und Tod, welchen Europa jetzt gegen
den Bolschewismus« 52 führe, einsetzen könne.
Im April 1943 erreichen Quislings Gesetze auch die Familie
Berthung.
Als Lillian eines Nachmittags von der Handelsschule nach Hause
kommt, überreicht ihr die Mutter einen Brief. Lillian schaut erstaunt auf den
grauen Umschlag. »Arbeitsvermittlung? Was soll das?« Sie reißt den Brief auf.
Lillian Berthung,
geboren am 20.8.1922, Handelsschulschülerin,
ist heute als meldepflichtig registriert in Hinblick auf das
Gesetz Nr. 1 im Zusammenhang mit dem Gesetz über den nationalen Arbeitseinsatz.
»Das kann doch nicht wahr sein«, ruft Annie, »was für ein
Arbeitseinsatz soll das denn sein? Steht die Nasjonal Samling dahinter? Oder
die Deutschen?«
Lillian ist schon auf dem Weg nach draußen. »Ich muss Blanche
fragen, ob sie auch so einen Brief bekommen hat.« Und tatsächlich, auch ihre
Freundin soll sich sofort bei dieser Arbeitsvermittlung melden.
Am Abend erinnert sich
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