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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holly Cupala
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davon und verschwand in der Menge. Ich konnte meine letzte Stunde, Kunst, kaum abwarten.
    Der Kunstvorbereitungskurs, das war wie zu mir selbst zurückzukehren, in einen Raum, den ich gut kannte. Die Fensterfront, farbverschmierte Waschbecken, Schubladen mit endlosen Möglichkeiten, all das seufzte: »Ja, hier gehöre ich hin.« Ich setzte mich ans Fenster und nickte den bekannten Gesichtern zu.
    Unsere Lehrerin, Mrs Crooker, war eine legendäre Persönlichkeit an der Elna Mead. Sie hatte fette und magere Jahre. In den fetten Jahren war sie immer gut gelaunt und ließ uns tun und lassen, was wir wollten, während sie sich meistens an einem wilden, sehr bunten Kunstwerk austobte. In den mageren Jahren lebte sie nur von Diät-Drinks und achthundert Kalorien am Tag, und mutierte zu einem schlecht gelaunten Tyrannen. In den mageren Jahren war ihre Geduld nicht mehr als ein blasser Pastellton und sie gab uns Aufgaben wie strenge, architektonische Perspektiven und die goldene Mitte zu zeichnen. Kubismus oder Impressionismus kamen in den mageren Jahren nicht infrage. Meine Labyrinthe schafften es gerade so, unter ihrem Radar durchzukommen, als liebevoller Tribut an Escher und da Vinci.
    Zum Glück befanden wir uns derzeit in einem fetten Jahr. Sie verspeiste gerade fröhlich eine Packung Schokoladenkekse.
    Unsere erste Aufgabe war es, eine doppelseitige Collage von uns zu entwerfen – eine Seite sollte unser Äußeres zeigen und die andere unser Inneres, das geheime Selbst.
    »Ich möchte, dass ihr tief in euch geht und mit etwas Frischem, Neuem kommt. Es muss nicht gut sein. Es muss nur echt sein. Viel Spaß.«
    »Keine Labyrinthe dieses Jahr!«, sagte Mrs Crooker, als sie an meinem Tisch vorbeikam. »Ich habe diese Aufgabe speziell für dich ausgesucht.«
    Sie leerte eine Schuhschachtel voller Zeitschriftenausschnitte, Fotokopien, Gravuren, Strichzeichnungen, Stofffetzen und handgefertigtem Papier auf einem Tisch in der Mitte des Raums aus. »Und los geht’s.«
    Am Anfang standen die Schüler nur zögerlich auf, dann schneller, als ob sie plötzlich realisiert hätten, dass ihr wahres Selbst sich irgendwo in dem Haufen befinden könnte. Ich hielt mich zurück, wartete, bis eine kleine Schwarz-Weiß-Zeichnung einer schwangeren Frau aus dem Mittelalter zu Boden fiel – die strenge Kopfbedeckung im krassen Kontrast zu der Art und Weise, wie sie liebevoll ihren Bauch hielt.
    Niemals würde ich dieses Blatt aufheben.
    Stattdessen nahm ich meinen Kram und rannte vor zum Lehrerpult.
    »Willst du irgendwohin?« Der letzte Schokoladenkeks verschwand in ihrem Mund, während sie ihr Skizzenbuch durchblätterte, und mir wurde bewusst, dass ich am Verhungern war. Wieder einmal.
    »Ich fühle mich nicht wohl. Darf ich kurz raus?«
    Sie sah mich nicht einmal an und sagte: »Irgendwann wirst du diese Aufgabe bewältigen müssen, Rand. Dieses Jahr wirst du dich nicht vor Porträts drücken können wie sonst immer.«
    Ich zuckte die Achseln und rannte zur nächstgelegenen Toilette.
    Meine Hände zitterten so sehr, als ich die Verpackung aufriss, dass mir der Test beinahe auf die kleinen beigefarbenen Fliesen gefallen wäre. Ich zog die Folie ab, bis nur noch der weiße Plastikstab übrig war.
    Halten Sie die absorbierende Spitze fünf Sekunden in Ihren Urinstrahl , lautete die Anweisung. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf .
    Nach zwei nervenaufreibenden Minuten starrte ich auf das kleine Fenster. Eine pinkfarbene Linie war deutlich zu erkennen. Ich suchte nach einer zweiten Linie – so schwach, dass es aussah, als würde sie die erste überschatten. Ich las die Anweisungen noch einmal, nur um sicherzugehen. Es ist möglich, dass die Linien nicht die gleiche Farbintensität aufweisen , stand da. Über 99 % genau! , schrien mich die Druckbuchstaben an. Und während ich wie erstarrt daraufblickte, verdunkelte sich die zweite Linie in ein grimmiges Pink. Mein Magen reagierte als Erstes.

6
    Meine Mutter konnte das Wetter in Seattle nicht kontrollieren, aber sie konnte es voraussagen. Sie suchte sich einen der letzten schönen Sonntagnachmittage aus, um uns in einer dunklen, hundert Jahre alten Kirche zum Vorsprechen für die Weihnachtsaufführung festzuhalten. Die einzige Hoffnung, die es hier zu geben schien, strömte durch die riesigen bunten Kirchenfenster herein und malte Scherben aus farbigem Licht auf die Bänke.
    Mom hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit dem Stift hinter ihrem Ohr sah sie aus wie ein hipper Regisseur

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