Erzaehl mir ein Geheimnis
gewesen. Sie warf mir ihren tödlichsten Blick zu – affektiert, übertrieben, fast schon cartoonartig. In diesem Moment sah ich sie wie durch Delaneys Augen. Ein Teil von mir hasste mich dafür.
Als mehr Leute eintrafen, winkte meine Mutter uns runter. »Möchte jetzt noch nicht alle Katzen aus dem Sack lassen«, trällerte sie. Falls irgendeiner Katze hier die Flucht gelingen sollte, wollte ich die erste sein.
»So«, sagte Mom mit lauter, kompetenter Stimme. »Ich möchte das hier einigermaßen einfach gestalten. Wir nehmen die Hauptrollen zuerst, dann die Nebenrollen, damit ich sehen kann, wer für was geeignet ist.« Das war der Traum eines jeden Kontrollfreaks – alle sahen sie an und warteten auf Anweisungen. Alle außer mir. Sie fing an, einen Stapel Drehbuchauszüge zu verteilen, und warf den Rest in meinen Schoß. »Mandy, hilf mir mal.«
Ich verteilte die Auszüge und überflog die Zeilen, die sie für das Vorsprechen ausgesucht hatte: Brenda diskutiert ihren Glauben mit ihrem Vater und ihrer Mutter – die jüngst an Krebs erkrankt ist –, als sie sich darauf vorbereiten, gemeinsam das Kommende zu bewältigen.
Kotz . Ganz klar ihre Vision unserer Familie. Schlimmer noch, Brenda war wahrscheinlich eine eigenwillige Verschmelzung von Xanda und mir: die verlorene Tochter, die nach Hause zurückkehrt.
Nachdem ich die Drehbücher verteilt hatte, stellte ich mich mit meinem Skizzenbuch hinten an die Wand, während meine Mutter drei Vorleser dirigierte. Essence und ihr zischendes S-s-s drangen ständig an meine Ohren, während sie hin- und herlief und ihre Zeilen vor sich hin murmelte. Ihre Stimme erreichte diese Tonlage, die mich nicht gestört hatte, bis Delaney mich irgendwann darauf aufmerksam machte.
Durch die Buntglasfenster schien die Nachmittagssonne, sie spiegelte sich auf meinem Zeichenblock. Ich versuchte, die Silhouette von Jesus im Buntglas nachzuzeichnen – Konzentriere dich auf Gesichter , würde meine Kunstlehrerin jetzt sagen –, aber die Teile zersplitterten und setzen sich ständig wieder neu zusammen, wie ein Spinnennetz.
Ein blauer Lichtschein fiel auf meine Skizze und ich lächelte, weil ich mich daran erinnerte, wie Xanda und ich früher Bilder vom Pfarrer und dem Chor gemalt hatten. Wir und Essence saßen immer so weit wie möglich vom Pfarrer entfernt.
***
Als ich zwölf war, waren meine Bilder schon gleichmäßig, ausbalanciert, sorgfältig ausgeführt. Xandas Bilder waren verwinkelt und dramatisch, mit dunklen Linien und unerwarteten Details. Wie zum Beispiel die Augen der Solistin, eines war größer als das andere, oder die zu locker sitzende Bluse dieser Alten nach ihrer Brustamputation. Essence dagegen zeichnete Strichmännchen, die ihre geheimen Sünden auf der Bühne auslebten. Das ließ Xanda und mich immer in grunzendes Gelächter ausbrechen.
An einem Sonntag saßen Xanda und ich auf der letzten Bank, während der Pfarrer über die tödlichsten der Todsünden predigte: Stolz, Eitelkeit und Neid.
»Komm, wir zeichnen das«, flüsterte Xanda mir zu. Ich dachte darüber nach, wie Stolz aussehen würde, ein alter Mann mit Hängebacken in einem Gehrock. Eitelkeit war eine große, schöne Frau mit einem Gesicht wie eine Maske. Neid war ein Drache, der über seinen Schatz wachte, anmutig und diabolisch. Als ich das Gesicht des Drachen zeichnete, gab ich ihm meine Augenbrauen und hängte ihm meine Kette mit dem Schildkrötenanhänger um den schuppigen Hals.
Xanda zeichnete Klippen und Täler, die unwiderruflich miteinander verbunden waren – Stolz war der Berg, Neid das Tal, das seine eigene Tiefe hasst und sich sehnsüchtig nach oben streckt, übernimmt, erobert. Sie zeichnete Eitelkeit als Vulkan mit einem Abgrund in der Mitte.
Xanda nahm mein Bild und beäugte es kritisch. Ihres sagte all das aus, was ich hatte ausdrücken wollen: den Leichtsinn des Stolzes und die Leere des Neids. Ich fürchtete, sie würde es zerreißen, mir sagen, dass ich den Sinn verfehlt hatte. Ihr Schmollmund hätte so oder so entscheiden können, mit einem umwerfenden Lächeln oder einem Stirnrunzeln oder sogar einer spontanen Explosion.
Ein Kichern brach aus ihr heraus, worauf eine der Betschwestern entsetzt ihre Lippen zu einem lauten »Shhhh« spitzte.
Xanda legte sich eine Hand auf den Mund. »Ist dir aufgefallen, dass der Drache aussieht wie Mom?«
Sie hatte recht – unsere gemeinsamen Augenbrauen, die gleichen Augen. Der Drache war nicht ich, er war Mom.
»Und Mr Stolz
Weitere Kostenlose Bücher