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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holly Cupala
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traurig aus. In ihrem Gesicht stand die gleiche Angst, die ich in meinem Gesicht gesehen hatte – an dem Tag, als ich letzten Sommer nach Hause gekommen war. Dann war der Moment vorbei und ich fragte mich, ob ich mir das eben nur eingebildet hatte. Ein letztes Schniefen, und sie verschwand wieder hinter der allzu bekannten Tür – Zutritt für Unbefugte verboten .
    Ich blieb in der Kabine, bis meine Beine anfingen zu kribbeln, lange nachdem sie gegangen war. Ihre Anwesenheit und ihre durchdringenden Augen waren immer noch im Raum zu spüren. Ich wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen, und rannte aus der Toilette. Wer weiß, wessen Augen mich aus diesem Spiegel angestarrt hätten.
    Shelley würde in ein paar Stunden hier sein, und vielleicht hätte ich bis dahin aufgehört zu zittern.
    Sie brachte mir ein nach Curry duftendes Eiersalat-Sandwich von zu Hause mit. Ich schlang es runter, während wir Lexi durch die Glasscheibe beobachteten. Sie hatte seit ihrer Geburt fünfhundert Gramm zugenommen und sich von einem dürren, bläulichen Strich von einem Baby zu einem ein klein bisschen weniger dürren, pfirsichfarbenen Baby entwickelt. An manchen Tagen musste Lexi die Lichtjacke tragen, um einer Gelbsucht vorzubeugen.
    »Wenn es nicht das ist, ist es etwas anderes«, sagte Shelley. »So wird es für den Rest deines Lebens bleiben.«
    »Redest du von Kindererziehung?«, fragte ich mit gespielter Ungeduld. Plötzlich meinte jeder, er müsste mir Erziehungsratschläge erteilen.
    »Ich rede von dem Gefühl, dass du ihr Leben nicht unter Kontrolle hast.« Shelley lächelte und tätschelte meinen Kopf. »Insofern also, ja, Kindererziehung.«
    »Ich wollte dich schon lange mal was fragen«, sagte ich und biss ein gigantisches Stück von dem Sandwich ab. »Oooh, du hast mir auch Chips mitgebracht. Danke.« Ich stürzte mich auf die Tüte und kaute fröhlich vor mich hin. Ich glaube, ich war hungriger, als ich gedacht hatte.
    »Ich habe mich gefragt … du kommst ständig hierher … ist es ein Problem für dich, Lexi und mich zu sehen? Ich meine, das muss doch schmerzhaft für dich sein. Ach, keine Ahnung«, beendete ich den Satz unsicher.
    Doch Shelley schnappte sich weder die Chips, noch rannte sie davon. Stattdessen legte sie ihre Arme um mich und drückte mich. »Du bist einen sehr langen Weg gegangen, um das zu fragen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Nun ja, ich denke, man muss an einem bestimmten Punkt ankommen und seine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund stellen, um sich so um einen anderen Menschen zu sorgen. Dafür danke ich dir.«
    »Bitte.« Ich zuckte mit den Schultern und lockerte meinen Griff um die Chipstüte. »Was ich aber eigentlich fragen wollte … kannst du dich daran erinnern, was du über die Zukunft gesagt hast?«
    »Du meinst, als du geschrien hast?« Sie lächelte.
    »Ja. Ich möchte wissen, was du damit gemeint hast.« Plötzlich sprudelte alles aus mir heraus, was ich in den letzten Monaten in meinem Kopf herumjongliert hatte. Ich erzählte ihr von Kamrans Wurmlöchern, dem Wie und Warum von Entscheidungen und hoffte, es ergab irgendwie Sinn. »Also, was du gesagt hast, dass die Gründe in der Zukunft liegen«, sagte ich durcheinander, »was hast du damit gemeint?«
    Das war eine Nik-Frage. Eine Frage, die man nur jemandem stellen konnte, der etwas sehr Wichtiges in seinem Leben verloren hatte. Eine Schwester. Oder ein Baby.
    »Das Leben ist wie ein Webteppich, und wir können zurückblicken und die einzelnen Fäden erkennen. Wie die Wurmloch-Theorie deines Freundes, aber eben rückwärts. Wir wissen nicht immer, warum etwas passiert, bis wir ein Stück weiter die Straße entlanggehen. Das habe ich damit gemeint.«
    Mir war schwindlig, wie nach Lexis Geburt, als ich nicht mehr genug Blut in meinem Körper hatte. »Vielleicht stirbt sie, weil ich alles falsch gemacht habe. Mit mir zu leben wäre ohnehin eine Bestrafung.«
    Zum ersten Mal sah Shelley aus, als könnte sie mir wirklich eine runterhauen. »Sag das nicht. Das Leben ist keine Strafe.«
    »Man braucht schon viel Vertrauen, um nicht so zu denken.«
    »Das stimmt allerdings.«
    Ich war skeptisch. Ich wollte ihren Worten glauben, um in Xandas Tod einen Sinn zu erkennen oder in dem, was gerade mit Lexi passierte.
    »Was ist mit Micah James? Glaubst du, jemals einen Sinn darin erkennen zu können, dass das passiert ist?«
    Ich wusste, ich hörte mich wütend an, und ich war es auch, wegen Xandas Tod, wegen der willkürlichen Umstände, die

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