Erzaehl mir ein Geheimnis
gedacht hatte, sie würde sie nicht annehmen. Essence war schon immer sehr nachsichtig mit mir. Oder vielleicht wusste sie, wie schwer es mir fiel, die Schuld bei mir selbst zu suchen. Das liegt in der Familie.
»Das bedeutet aber nicht, dass du nicht doch ein bisschen zu Kreuze kriechen musst. Ich verstehe, dass du im Bann der umwerfenden Delaney Pratt …«
»Du meinst der verabscheuungswürdigen Delaney Pratt?«
»… der verkommenen, jämmerlichen, gefährlichen Delaney Pratt … aber das bedeutet nicht, dass du schon vom Haken bist.« Ihr Gesicht war vollkommen ernst. »Du warst dieses Jahr ziemlich fies zu mir.«
Ich nickte. Es war die Wahrheit.
»Du hast dich über mich lustig gemacht. Du hast mich fallen lassen. Du hast mich gedemütigt. Dann hast du mir die Schuld für etwas gegeben, das ich nicht getan habe. Und du hast es mir übel genommen, dass ich eine Rolle bekam, die du nicht einmal gewollt hast.«
Noch schlimmer war, dass ich dem Weg von Xandas Leben allein gefolgt war, ohne die Freundin, die ich am meisten gebraucht hätte. Dazu konnte ich nichts mehr sagen.
»Wie müssen sehen, wie es weitergeht. Ich weiß nicht, ob ich dir noch vertrauen kann.«
Ich wusste nicht mal, ob ich mir selbst vertrauen konnte.
»Du solltest nach Hause gehen, Rand. Ob du es glaubst oder nicht, deine Mom vermisst dich.«
»Ja, klar. So wie sie Xanda vermisst.«
Essence sah mich eindringlich an. »Vielleicht solltest du ihr eine Chance geben. Vieles hat sich geändert … du solltest mit ihr reden.«
Sie würde wahrscheinlich nicht mehr so denken, wenn ich ihr von meinem Ausflug mit Andre erzählen würde. Lexi gab ein schnaubendes Geräusch von sich. Ihr Signal, dass sie bald etwas zu essen wollte.
»Also jedenfallls«, fuhr Essence fort, »hatte ich gehofft, dass ich dein Baby sehen darf. Wie heißt es?«
Wenn es irgendjemanden auf der Welt gab, der den Zusammenhang verstehen würde, dann war es Essence. Ich spielte mit der Kette aus Sicherheitsnadeln an meinem Hals und atmete tief durch.
Dann erzählte ich Xandas Geschichte zum ersten Mal.
42
»Hey, was machst du hier?«, dröhnte eine Stimme in meinen Ohren und riss mich aus dem Tiefschlaf. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst hier nicht rumlungern!«
Der Kerl über mir war riesig. Wütend. Seine Aussprache war sehr feucht und sein Atem roch nach Knoblauch. Stahlharte Augen durchbohrten mich wie Nadeln.
Der Wachmann.
Er hätte gar nicht hier sein sollen. Er hatte mich doch aus dem Bett zwei Stockwerke tiefer, im Flügel der Gastroenterologie verjagt. Das hatte er doch? War das hier nicht die Onkologie? Ich hatte doch noch ein paar Tage Zeit, bevor ich mir ein neues Zimmer suchen musste?
»Wo ist dein Patientenausweis? Wen besuchst du hier?« Er stand über mir wie eine Bulldogge, während ich mich aufsetzte. Adrenalin pumpte durch meinen Körper.
»Ich bin eine Patientin«, stammelte ich. »Ich war eine Patientin. Ich meine …« Ich wühlte in meiner Handtasche.
Seine Aufmerksamkeit würde bald nachlassen.
Kampf oder Flucht?
Ich hatte mich eigentlich noch gar nicht entschieden, da sprang ich schon über die Pritsche und rannte in Richtung des nächstgelegenen Treppenhauses. Während ich lief, schüttelte ich den Schlaf ab und hielt krampfhaft meine Tasche fest.
Auf welchem Stockwerk war ich noch mal?
Hinter mir im Flur hörte ich Schritte. Der Gang war leer so früh am Morgen. Ich blickte über die Schulter, um zu sehen wie viel Vorsprung ich hatte. Er war schwer und muskulös, wie ein Wrestler, und seine Stiefel dröhnten dumpf auf dem Boden. Bumm, bumm, bumm. Das Geräusch hallte von den Wänden wider.
Ich stieß die Tür zum Treppenhaus auf. Irgendetwas griff nach meinem First-Washington-T-Shirt – ursprünglich goldfarben, jetzt gelbgrau –, aber es war nur die Türklinke, an der mein T-Shirt hängen geblieben war.
Bumm, bumm, bumm. »Hey, Mädchen! Komm sofort zurück!«
Dann fiel die Tür ins Schloss und dämpfte seine Stimme.
Ich sprang die Stufen hinab, drei auf einmal nehmend, konzentrierte meinen Schwung immer auf den nächsten Treppenabschnitt. Jetzt war auch er im Treppenhaus und rief über Funk nach Unterstützung. Teenager, mögliche Ausreißerin. Läuft die südlichen Treppen runter .
Ich war seit Monaten nicht mehr gerannt, aber es fiel mir nicht schwer, wieder in den Rhythmus zu finden. Ich war schnell, viel schneller als ein Wachmann mittleren Alters, der zu viele Knoblauchbagels aus der Krankenhaus-Cafeteria
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