Erzaehl mir ein Geheimnis
drohte.
»Das ist ein schöner Name. Hat er eine Bedeutung?«
»So hieß meine Schwester. Alexandra. Xanda.«
»Xandas Engel.« Verständnis zeigte sich auf Shelleys Gesicht. »Ihr müsst euch sehr nahegestanden haben.«
Der Kloß in meinem Hals hielt mich davon ab, ihr zu antworten.
»Ich habe mich gestern mit deiner Mutter unterhalten. Bevor ich wusste …« Sie sprach nicht weiter. »Ich hasse es, dich an Weihnachten hier allein zu lassen. Möchtest du, dass ich jemanden für dich anrufe?«
Die Schwester winkte mir durch die Glasscheibe zu. Lexi wartete.
»Nein danke, ich verbringe Weihnachten mit Lexi … aber du kommst wieder?«
»Natürlich. Kann ich DaShawn mitbringen?«
Ich nickte, als die Schwester kam, um mich auf die Intensivstation zu schieben.
39
Shelley kam mit DaShawn zurück – am Tag nach Weihnachten, am Tag danach, und an fast jedem darauffolgenden Tag bis Silvester. Ich wusste nie, worüber ich mit DaShawn reden sollte, also sicherte ich mir seine ewige Ergebenheit, indem ich ihn mit Wassereis aus dem Kühlschrank des Krankenhauses versorgte. Als ich Shelley nach meinem Job fragte, sagte sie: »Mach dir keine Gedanken darüber, wir haben vorübergehend einen Ersatz für dich eingestellt. Wann immer du zurückkommen möchtest, kriegst du deinen Job wieder.« DaShawn hatte Lexi seine Stoffgiraffe mitgebracht und überreichte sie mir mit der Begründung: »Ich brauche Raffi jetzt nicht mehr.«
Lexi überstand die kritischen ersten achtundvierzig Stunden, während ich die meiste Zeit neben ihr saß. Eingewickelt in Drähte und Schläuche sah sie aus wie einer von Kamrans Cyborg-Science-Fiction-Helden. Ich verbrauchte mehr als die Hälfte meines Handyakkus, um Bilder von ihr zu machen und stieß dabei auf das Bild, das ich von dem Jesus auf dem Buntglasfenster der Kirche gemacht hatte. Ich hatte ganz vergessen, dass es noch auf meinem Handy war.
»Wenn sie es durch die ersten Tage schafft, dann hat sie eine sehr gute Chance«, erklärte mir die Oberschwester der Intensivstation. »Und je mehr Zeit du mit ihr verbringst, desto besser ist es für sie. Sobald sie stabiler ist, darfst du sie anfassen.«
Bis dahin durfte ich bei ihr bleiben. Sie hatten mich aus dem Kreißsaal zuerst auf die Wachstation und dann in ein winziges Zimmer mit einer Pritsche in der Nähe der Intensivstation verlegt. »Du kannst hierbleiben, bis wir das Zimmer brauchen.« Eine Schwester unternahm einen Rundgang mit mir und zeigte mir die Dusche im Pausenraum, die Kaffeemaschine und den Süßigkeitenautomaten. Nachdem ich sechs Monate lang mein Eigengewicht an Erdnussbutter gefuttert hatte, war mir jetzt überhaupt nicht mehr nach Essen zumute.
Ich beobachtete meine Tochter im Brutkasten, wo nichts außer den Schläuchen sie berühren konnte, die auf ihrer papierdünnen Haut klebten. Sie war kleiner als die Giraffe, die ich hielt, rötlich und fleckig, mit Händen wie eine Puppe.
Xanda war auch eine Frühgeburt. Ob meine Eltern genauso an dieser Stelle hier gestanden und sich gefragt hatten, ob ihre Tochter leben oder sterben würde? Irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen.
»Du kannst mit ihr reden«, riet mir meine Ärztin bei einem ihrer Besuche. »Sie kennt deine Stimme, sie hat dich monatelang gehört.«
»Was soll ich ihr sagen?«
»Das spielt keine Rolle. Sing ihr etwas vor. Sag ihr, dass du sie liebst. Erzähl ihr aus deinem Leben. Wenn du schon nicht ihre Haut berühren kannst, berühre sie mit deiner Stimme.«
Ich wartete, bis ich allein auf der Station war. Ab und zu huschte eine Schwester vorbei, um die Monitore der Babys zu kontrollieren. Das Baby in der Jacke hatte Gelbsucht und das Licht half seinem Körper, das überschüssige Bilirubin abzubauen. Lexis Haut war immer noch viel zu zart für die Lichtjacke, zu wund für selbst die kleinste Berührung. Ein anderes Baby hatte einen riesigen Bluterguss am Hinterkopf, aber zumindest war es wohlgenährt und gesund.
Das zitternde Baby war weg. Ich wusste nicht, was mit ihm passiert war.
Sing ihr etwas vor , hatte mir die Ärztin geraten. Sie hatte keine Ahnung, was sie da von mir verlangte. Ich konnte nicht singen. Nicht in der Kirche, nicht auf der Bühne, nicht einmal auf einer leeren Krankenhausstation mit nur Neugeborenen als Zuhörer. Den Babys war es egal, sie wollten einfach nur ein Lied hören.
Ich sang Lexi eine Strophe aus Xandas Lieblingslied von Splashdown vor. »If they try to clip your wings …« Meine Stimme krächzte. Der
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