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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holly Cupala
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ein Überläufer. Ich war einfach mit meinen Eltern weggefahren, nachdem Xanda, die nicht viel mehr trug als die Kette aus Sicherheitsnadeln, die ich ihr geschenkt hatte, aus dem Haus gerannt war. Sie hatte gequietscht, als sie das kleine Geschenk von mir auspackte. Vorsichtig hatte sie die Kette aus der Schachtel geholt und sie ins Licht gehalten.
    »Sieh mal, Andre!« Er hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht, als ob es sein eigenes Sofa wäre. Ich wusste, dass Mom das gar nicht passte, sie war wütend, weil er nach Zigaretten roch und der Geruch in die Polster zog. Wir würden es später zu hören bekommen, obwohl sie eigentlich froh war, dass Andre und Xanda ausnahmsweise bei uns zu Hause waren, anstatt auf dem Weg nach Gott weiß wohin um Gott weiß was zu tun. Er nickte. Ein anerkennendes Nicken.
    »Rand hat sie für mich gemacht. Passend zu meinem Kleid .« Sie kicherte, als sie ihr Kleid erwähnte. Das typische verschmitzte Lächeln breitete sich auf Andres Gesicht aus. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dieses Lächeln würde mir gelten.
    Nachdem sie gegangen waren, hielt die Erinnerung an dieses Lächeln an, und als ich dann für die letzte Aufführung auf der Bühne stand, dachte ich nicht mehr über das Geschrei meiner Mutter oder den Rock nach, der im Feuer gelandet war. Ich hatte nur dieses Lächeln und das zustimmende Nicken vor Augen. Ich glitt an den Menschenmassen vorbei, alle Blicke auf mich gerichtet, die mich an den Kulissen festnagelten, die mein Vater gebaut hatte. Ich war nur das kleine Mädchen in dem weißen Kleid, angeleuchtet wie ein Engel oder ein weißer Vogel, der aus der Kirche schwebt und auf dem Platz zwischen meiner Schwester und Andre landet, und wir fliegen alle zusammen weg.
    Das erstickte Keuchen meiner Mutter hatte meinem Traum ein Ende gesetzt.
    Ein Raunen breitete sich im Publikum aus und mir wurden plötzlich die vielen schwarzen Köpfe bewusst, die flüsterten und mich anstarrten. Ich hörte den Namen meiner Schwester in der Menge. Wenn etwas nicht stimmte, dann hatte es natürlich mit ihr zu tun. Die Gerüchte und die abfälligen Bemerkungen hörten niemals auf. Meine arme Mutter. Mein armer Vater. Und ich Ärmste, die in ihre Fußstapfen treten muss.
    Im Hinterzimmer redete ein Polizist leise mit meinen Eltern.
    Mein Dad hatte die Bühne betreten, vollkommen niedergeschmettert, als ob das Gewicht unserer Familie ihn nun endgültig unter sich begraben hätte. Ich blickte in den Seitenflügel, wo meine Mutter – ihr Gesicht voller roter Schwellungen und weißer Winkel – zischte: »Tu es nicht!«
    Er begann zu sprechen. Zögerlich, gebrochen, erschüttert. »Leute, es hat einen …«
    Im Bruchteil einer Sekunde, bevor er »Unfall« sagen konnte, wurde der verletzte Gesichtsausdruck meiner Mutter hart wie Stahl. Sie war wunderschön und unsagbar furchterregend. Sie schritt auf die Bühne wie eine Königin und lächelte dem Publikum, dessen Gemurmel in lautstarkes Gerede übergegangen war, zu. Sie streckte ihre Hände aus und bat um Ruhe.
    »Meine Damen und Herren«, verkündete sie, »wir haben ein paar technische Schwierigkeiten, aber die Show wird gleich weitergehen. Wir machen eine kleine Pause, holen Sie sich bitte heiße Schokolade im Eingangsbereich und genießen Sie die Musik, bis wir alles wieder im Griff haben.« Den letzten Teil betonte sie mit einem Kichern.
    Das Publikum entspannte sich. Die Krise war abgewendet, aber ich konnte die Panik, die mich zu überwältigen drohte, nicht aufhalten. Ich bewegte mich langsam auf meinen Dad zu, der im Seitenflügel stand und auf meine Mom wartete. Seine Schultern zuckten, als lache er leise in sich hinein. Doch er lachte nicht. Er weinte.
    Dann begann auch ich zu weinen. Ich bekam furchtbare Angst, weil mein Dad weinte und meine Mom sich in einen harten Diamanten verwandelt hatte. Sie bemerkte nicht einmal, dass ich da war.
    »Reiß dich zusammen«, sagte sie leise. »Wir müssen sie identifizieren.«
    Er merkte nicht, dass ich mein weißes Kleid mit den Händen umklammerte. Ich stand immer noch auf der Bühne, und Hunderte von Menschen beobachteten mich. Ich konnte die Tränenflut, die meine Lungen, meine Kehle und meine Augen füllte, nicht aufhalten, auch nicht den Schluchzer, der aus meinem Mund kam. »Was ist passiert?«
    Alles, was ich sah, waren die roten Augen meines Dads und das angespannte Gesicht meiner Mutter. Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Stimme bis in die Deckenbalken der Kirche hallte und

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