Erzaehl mir ein Geheimnis
alle sofort stehen blieben. »Wo ist Xanda?«
Alle warteten auf eine Antwort.
Meine Mutter nahm mich in die Arme und ich sah, wie eine Träne neben meinen Schuh fiel und dann in den Holzdielen der Bühne versickerte.
»Jetzt sieh dir an, was du getan hast«, sagte sie zu meinem Vater, während sie mich weiter an ihren dünnen, in Kaschmir gekleideten Körper drückte. Die Perlenkette, die sie um den Hals trug, kratzte an meinem Gesicht.
»Was ich getan habe?«, fragte mein Vater. Er sammelte unsere Mäntel ein. Versuchte sich nützlich zu machen. Und die Bühnenhelfer zu ignorieren, die das auch wissen wollten.
»Das ist alles deine Schuld, Chuck«, zischte sie. »Du hast ihn eingestellt, du hast ihn in unser Haus gebracht, du hast nur dagestanden und nichts getan, während er … er unsere Tochter gevögelt hat.« Meine Ohren dröhnten, als ob sie die Worte an mich gerichtet hätte. »Und jetzt …«
Mein Dad stand da wie betäubt und starrte meine Mom an, während sie mich mit dem Arm über meinen Schultern in Richtung Hinterausgang schob. Er folgte uns betreten.
Als ich auf dem Rücksitz des Autos saß, hallten die Worte in meinem Kopf wider. Als wir in der weißen Festung Krankenhaus verschwanden und durch die Korridore liefen, hörte ich sie immer noch. Sie verstummten erst, als sie mich vor einer Tür mit der Aufschrift ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN absetzten, durch die sie als meine Eltern hineingingen und als Fremde wieder herauskamen.
Andre hatte sie umgebracht. Mein Dad hatte sie umgebracht. Meine Mutter hatte sie umgebracht. Ich fragte mich sogar, ob auch ich sie auf irgendeine Art und Weise umgebracht hatte.
Jetzt, im selben Krankenhaus, war Lexi dem Tod von der Schippe gesprungen. In ein paar Tagen würde sie entlassen werden.
Freiheit.
Ich könnte der Vogel sein, der uns beide von hier wegbrachte. Ich musste nur einen Koffer packen und gehen.
44
Der Bus bahnte sich seinen Weg durch die Hügel unserer Nachbarschaft, während ich in Gedanken eine Liste machte, was ich brauchte: Geld, Lebensmittel, Kleidung, Handy-Ladegerät. Das alles musste in Dads Campingrucksack passen, der noch irgendwo in der Waschküche lag.
Ich musste mein Konto abräumen, falls sie auf die Idee kämen, mich zu suchen. Ich hatte jeden Cent meines Gehalts gespart, damit konnte ich uns eine Weile mit Windeln und Milch versorgen. Dann waren da noch Dads Münzsammlung, der Pfandbrief von Onkel Brit und die Perlenkette, die mir die Eltern meiner Mutter zu meinem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Kaum zu glauben, dass das erst ein Jahr her war.
Es gab so vieles, das ich zurücklassen musste, Zeichnungen, Fotos, Briefe. Ich berührte die Sicherheitsnadelkette an meinem Hals und wünschte mir, ich könnte das Kleid mitnehmen. Wenn ich genug Zeit hatte, konnte ich den Inhalt meiner Kunstmappe auf einem Stick speichern, damit ich bei der Jobsuche zumindest irgendetwas vorzeigen könnte. Filmkulissen malen? Comics kolorieren? Ich würde alles tun, um Lexi und mich über Wasser zu halten. Wenn wir nur erst ankommen würden und einen Platz zum Schlafen hätten, dann würde mir schon etwas einfallen.
Ich fragte den Busfahrer nach der Uhrzeit. Viertel vor neun. Perfekt, sie würden jetzt auf dem Weg zur Kirche sein und ich hatte gut drei Stunden Zeit.
Unser Haus sah aus wie immer, und doch war es mir fremd. Dieselbe Auffahrt, dasselbe Auto, dieselbe Tür, dieselben Fenster und dieselben Gitter. Ich fragte mich, ob mein Schlüssel passen würde.
Er passte.
Als ich einen flüchtigen Blick in den Flurspiegel erhaschte, erkannte ich den blassen, gehetzten Menschen darin kaum wieder – bis auf die Augen. Augen wie Xandas, wie Moms und jetzt wie Lexis. Ich musste nur einen anderen Weg finden, dann würde Lexis Leben anders verlaufen.
Ich beeilte mich, den Rucksack zu suchen.
Der Teppich auf der Treppe fühlte sich vertraut an unter meinen Füßen, aber die Bilder an den Wänden waren komplett ausgetauscht worden. Meine Zeichnungen waren weg. Ausgelöscht, wie Xanda.
Meine Zimmertür war geschlossen, die Tür zu Xandas Zimmer – jetzt Arbeitszimmer – stand ein Stück offen. Mein Zimmer sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte: Schwangerschaftsklamotten über den Stühlen, das Schuhchaos unten im Schrank und Bücherstapel neben einem Ordner voller Schulnotizen. Das Leben vor Lexi lag vor mir ausgebreitet wie diese Leiche.
Alles sah aus wie immer, bis auf einen rosafarbenen Stapel, der auf meinem Bett lag. Als ob
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