Erzähl mir von morgen
Panik ergriff mich, als ich das Bügeleisen wegstellte und mein Blick auf den kleinen, braunen Pappkarton fiel, in dem sich meine Bürounterlagen befanden.
Ich öffnete ihn und musste lächeln, als ich ganz oben auf den Unterlagen das Foto von Sam und mir fand. Vorsichtig nahm ich es zur Hand und strich mit zarten Fingern darüber. Wir waren damals so glücklich gewesen. Ich seufzte leise.
Es hatte mich trotz des großen Schmerzes über den Verlust meines Bruders getröstet und mit einem Mal wusste ich, wo ich hingehen musste.
Ich nahm meine Jacke und die Tasche und verließ die Wohnung. Im hellen Sonnenschein lief ich zur Subway und fuhr von Haymarket bis nach Forrest Hills.
Als ich ausstieg, wurde mir bewusst, wie nah Freude und Leid beieinander lagen. Noch vor wenigen Tagen war ich mit Christopher und Celia im Franklin Park Zoo gewesen. Der Friedhof, auf dem nicht nur mein älterer Bruder, sondern auch meine besten Freunde beerdigt worden waren, lag direkt daneben.
Ich ging durch das gemauerte Eingangstor in den Friedhofsbereich und es erschien mir, als wäre ich auf einmal in einer anderen Welt. Hier schienen die Uhren langsamer zu laufen. Ich spürte wie eine Ruhe mich ergriff und meine innere Aufgewühltheit verdrängte. Langsam schlenderte ich den asphaltierten Weg entlang. Fo rrest Hills war ein ganz besonderer Ort.
Alte Bäume schmück ten die bewaldeten Höhen und schattigen Täler. An Sonntagnachmittagen verbummelten Städter ihre Zeit, sahen sich den Wasser und den Brunnen an oder saßen einfach nur ruhig am See.
Ich lief entlang alter Gräbe r, deren Grabsteine bereits am Verfallen waren und auf denen marmorne Engel die Toten bewachten, bis ich schließlich den Weg erreichte, der mich durch eine schattige Allee aus verwachsenen Linden führte.
Ich blieb vor dem schmalen Grab stehen und sammelte mich kurz. Es fiel mir immer noch sehr schwer, hierher zu kommen und für mich war nicht dieser Ort, dieser Friedhof ein Platz, an dem ich meinem Bruder nah war.
Dennoch spürte ich ab und zu das Verlangen , sein Grab zu besuchen.
Samuel J. Thomson
1981 – 2003
„Hi Sam!“ begrüßte ich ihn leise und klaubte einige Blätter von dem Grab. Ich hatte vor einigen Wochen neue Blumen gepflanzt, die in diesem schattigen Teil des Friedhofs wenig Pflege benötigten.
„Du wunderst dich sicher, weshalb ich gekommen bin!“ Vorsichtig setzte ich mich auf die Granitumrandung des Grabes und sah durch die Allee hinunter auf den weitläufigen Park, der an diesem Nachmittag einigen Sportlern und Spaziergängern mit seinem Schatten eine wohltuende Abwechslung brachte.
Meine Fingerspitzen strichen vorsichtig über den kühlen Stein, auf dem ich saß.
Zwei ältere Damen, die mir bereits vom Sehen bekannt waren, kamen an mir vorbei und sahen mich pikiert an, wie ich auf dem Grab meines Bruder Platz genommen hatte.
„Sie kennen mich jetzt schon eine Weile, aber sehen mich immer noch so an, als w ürde ich dein Grab entweihen!“ Ich kicherte leise, dann wurde ich wieder ernst.
„Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, Sam!“ flüsterte ich, endlich erleichtert diese Last aussprechen zu können. „Man hat mich rausgeschmissen und du weißt, dass ich mit meinen Zeugnissen kaum eine ähnliche Stelle kriegen werde!“
Ich schloss die Augen. Tränen brannten darin und ich versuchte, sie zurückzuhalten. Trotz Sams Bemühungen, mich bei meinen Schulaufgaben zu unterstützen, war ich keine Musterschülerin. Ich schwänzte häufig, was auch mit den bösen Sticheleien meiner Mitschüler zu tun hatte, und dementsprechend schlecht waren meine Noten. Den High-School- Abschluss schaffte ich nur mit Mühe und Not.
Sam, der uns nach dem Tod unserer Mutter, allein durchbringen musste, versucht e sein Möglichstes, doch damals sah ich den Zusammenhang zwischen guten Noten und einem gut bezahlten Job noch nicht.
Ich seufzte. Darin bestand heute mein Problem.
„Ich weiß, was du sagen willst, aber erspar mir die Strafpredigt. Damals war ich einfach noch nicht soweit.“
Ich strich erneut über den glatten Stein.
„Ich habe dir niemals gesagt, wie dankbar ich dir bin, Sam!“ sagte ich mit erstickter Stimme. „Du hast alles für mich aufgegeben. Ich liebe dich!“
Sam hatte damals alles für mich getan. Er suchte sich nach seinem Schulabschluss einen schlecht bezahlten Job und versuchte, mir ein normales Leben zu ermöglichen. Dass er dadurch seinen großen Wunsch, zur Polizei zu gehen,
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