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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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stellte
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    sich Gregor bei der Ankunft der Schwester in derartige beson-
    ders bezeichnende Winkel, um ihr durch diese Stellung gewis-
    sermaßen einen Vorwurf zu machen. Aber er hätte wohl wo-
    chenlang dort bleiben können, ohne daß sich die Schwester
    gebessert hätte; sie sah ja den Schmutz genau so wie er, aber
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    sie hatte sich eben entschlossen, ihn zu lassen.
    Dabei wachte sie mit einer an ihr ganz neuen Empfindlich-
    keit, die überhaupt die ganze Familie ergriffen hatte, darüber,
    daß das Aufräumen von Gregors Zimmer ihr vorbehalten blieb.
    Einmal hatte die Mutter Gregors Zimmer einer großen Reini-
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    gung unterzogen, die ihr nur nach Verbrauch einiger Kübel
    Wasser gelungen war - die viele Feuchtigkeit kränkte aller-
    dings Gregor auch und er lag breit, verbittert und unbeweglich
    auf dem Kanapee -, aber die Strafe blieb für die Mutter nicht
    aus. Denn kaum hatte am Abend die Schwester die Verände-
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    rung in Gregors Zimmer bemerkt, als sie, aufs höchste belei-
    digt, ins Wohnzimmer lief und, trotz der beschwörend erhobe-
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    Franz Kafka: Erzählungen

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    nen Hände der Mutter, in einen Weinkrampf ausbrach, dem die
    Eltern - der Vater war natürlich aus seinem Sessel aufge-
    schreckt worden - zuerst erstaunt und hilflos zusahen; bis
    auch sie sich zu rühren anfingen; der Vater rechts der Mutter
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    Vorwürfe machte, daß sie Gregors Zimmer nicht der Schwester
    zur Reinigung überließ; links dagegen die Schwester anschrie,
    sie werde niemals mehr Gregors Zimmer reinigen dürfen;
    während die Mutter den Vater, der sich vor Erregung nicht
    mehr kannte, ins Schlafzimmer zu schleppen suchte; die
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    Schwester, von Schluchzen geschüttelt, mit ihren kleinen
    Fäusten den Tisch bearbeitete; und Gregor laut vor Wut dar-
    über zischte, daß es keinem einfiel, die Tür zu schließen und
    ihm diesen Anblick und Lärm zu ersparen.
    Aber selbst wenn die Schwester, erschöpft von ihrer Berufs-
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    arbeit, dessen überdrüssig geworden war, für Gregor, wie
    früher, zu sorgen, so hätte noch keineswegs die Mutter für sie
    eintreten müssen und Gregor hätte doch nicht vernachlässigt
    werden brauchen. Denn nun war die Bedienerin da. Diese alte
    Witwe, die in ihrem langen Leben mit Hilfe ihres starken Kno-
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    chenbaues das Ärgste überstanden haben mochte, hatte kei-
    nen eigentlichen Abscheu vor Gregor. Ohne irgendwie neugie-
    rig zu sein, hatte sie zufällig einmal die Tür von Gregors Zim-
    mer aufgemacht und war im Anblick Gregors, der, gänzlich
    überrascht, trotzdem ihn niemand jagte, hin und herzulaufen
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    begann, die Hände im Schoß gefaltet staunend stehen geblie-
    ben. Seitdem versäumte sie nicht, stets flüchtig morgens und
    abends die Tür ein wenig zu öffnen und zu Gregor hineinzu-
    schauen. Anfangs rief sie ihn auch zu sich herbei, mit Worten,
    die sie wahrscheinlich für freundlich hielt, wie "Komm mal
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    herüber, alter Mistkäfer!" oder "Seht mal den alten Mistkäfer!"
    Auf solche Ansprachen antwortete Gregor mit nichts, son-
    dern blieb unbeweglich auf seinem Platz, als sei die Tür gar
    nicht geöffnet worden. Hätte man doch dieser Bedienerin, statt
    sie nach ihrer Laune ihn nutzlos stören zu lassen, lieber den
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    Befehl gegeben, sein Zimmer täglich zu reinigen! Einmal am
    frühen Morgen - ein heftiger Regen, vielleicht schon ein Zei-
    chen des kommenden Frühjahrs, schlug an die Scheiben - war
    Gregor, als die Bedienerin mit ihren Redensarten wieder be-
    gann, derartig erbittert, daß er, wie zum Angriff, allerdings
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    langsam und hinfällig, sich gegen sie wendete. Die Bedienerin
    aber, statt sich zu fürchten, hob bloß einen in der Nähe der
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    Franz Kafka: Erzählungen

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    Tür befindlichen Stuhl hoch einpor, und wie sie mit groß geöff-
    netem Munde dastand, war ihre Absicht klar, den Mund erst zu
    schließen, wenn der Sessel in ihrer Hand auf Gregors Rücken
    niederschlagen würde. "Also weiter geht es nicht?" fragte sie, 5
    als Gregor sich wieder umdrehte, und stellte den Sessel ruhig
    in die Ecke zurück.
    Gregor aß nun fast gar nichts mehr. Nur wenn er zufällig an
    der vorbereiteten Speise vorüberkam, nahm er zum Spiel
    einen Bissen in den Mund, hielt ihn dort stundenlang und spie
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    ihn dann meist wieder aus. Zuerst dachte er, es sei die Trauer
    über den Zustand seines Zimmers, die ihn vom Essen

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