Erzählungen
er die feste Absicht
gehabt habe, sie auf das Konservatorium zu schicken, und daß
er dies, wenn nicht das Unglück dazwischen gekommen wäre,
35
vergangene Weihnachten - Weihnachten war doch wohl schon
vorüber? - allen gesagt hätte, ohne sich um irgendwelche
Widerreden zu kümmern. Nach dieser Erklärung würde die
Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor
würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen,
40
den sie, seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder
Kragen trug.
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 44 -
"Herr Samsa!" rief der mittlere Herr dem Vater zu und zeigte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit dem Zeigefinger auf
den langsam sich vorwärtsbewegenden Gregor. Die Violine
5
verstummte, der mittlere Zimmerherr lächelte erst einmal
kopfschüttelnd seinen Freunden zu und sah dann wieder auf
Gregor hin. Der Vater schien es für nötiger zu halten, statt
Gregor zu vertreiben, vorerst die Zimmerherren zu beruhigen,
trotzdem diese gar nicht aufgeregt waren und Gregor sie mehr
10
als das Violinspiel zu unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie mit ausgebreiteten Armen in ihr Zimmer zu drängen
und gleichzeitig mit seinem Körper ihnen den Ausblick auf
Gregor zu nehmen. Sie wurden nun tatsächlich ein wenig böse,
man wußte nicht mehr, ob über das Benehmen des Vaters
15
oder über die ihnen jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu
wissen, einen solchen Zimmernachbar wie Gregor besessen zu
haben. Sie verlangten vom Vater Erklärungen, hoben ihrerseits
die Arme, zupften unruhig an ihren Bärten und wichen nur
langsam gegen ihr Zimmer zurück. Inzwischen hatte die
20
Schwester die Verlorenheit, in die sie nach dem plötzlich abge-
brochenen Spiel verfallen war, überwunden, hatte sich, nach-
dem sie eine Zeit lang in den lässig hängenden Händen Violine
und Bogen gehalten und weiter, als spiele sie noch, in die
Noten gesehen hatte, mit einem Male aufgerafft, hatte das
25
Instrument auf den Schoß der Mutter gelegt, die in Atembe-
schwerden mit heftig arbeitenden Lungen noch auf ihrem Ses-
sel saß, und war in das Nebenzimmer gelaufen, dem sich die
Zimmerherren unter dem Drängen des Vaters schon schneller
näherten. Man sah, wie unter den geübten Händen der
30
Schwester die Decken und Polster in den Betten in die Höhe
flogen und sich ordneten. Noch ehe die Herren das Zimmer
erreicht hatten, war sie mit dem Aufbetten fertig und schlüpfte
heraus. Der Vater schien wieder von seinem Eigensinn derartig
ergriffen, daß er jeden Respekt vergaß, den er seinen Mietern
35
immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon in
der Tür des Zimmers der mittlere der Herren donnernd mit
dem Fuß aufstampfte und dadurch den Vater zum Stehen
brachte. "Ich erkläre hiermit", sagte er, hob die Hand und suchte mit den Blicken auch die Mutter und die Schwester,
40
"daß ich mit Rücksicht auf die in dieser Wohnung und Familie herrschenden widerlichen Verhältnisse" - hierbei spie er kurz _________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 45 -
entschlossen auf den Boden - "mein Zimmer augenblicklich
kündige. Ich werde natürlich auch für die Tage, die ich hier
gewohnt habe, nicht das Geringste bezahlen, dagegen werde
ich es mir noch überlegen, ob ich nicht mit irgendwelchen -
5
glauben Sie mir - sehr leicht zu begründenden Forderungen
gegen Sie auftreten werde." Er schwieg und sah gerade vor
sich hin, als erwarte er etwas. Tatsächlich fielen sofort seine
zwei Freunde mit den Worten ein: "Auch wir kündigen augen-
blicklich." Darauf faßte er die Türklinke und schloß mit einem 10
Krach die Tür.
Der Vater wankte mit tastenden Händen zu seinem Sessel
und ließ sich in ihn fallen; es sah aus, als strecke er sich zu
seinem gewöhnlichen Abendschläfchen, aber das starke Nicken
seines wie haltlosen Kopfes zeigte, daß er ganz und gar nicht
15
schlief. Gregor war die ganze Zeit still auf dem Platz gelegen,
auf dem ihn die Zimmerherren ertappt hatten. Die Enttäu-
schung über das Mißlingen seines Planes, vielleicht aber auch
die durch das viele Hungern verursachte Schwäche machten es
ihm unmöglich, sich zu bewegen. Er fürchtete mit einer gewis-
20
sen Bestimmtheit schon für den nächsten Augenblick einen
allgemeinen über ihn sich entladenden Zusammensturz und
wartete.
Weitere Kostenlose Bücher