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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Ratte oder auf ein zerquetschtes Katzenvieh getreten ... Aber vielleicht ist es gar keine tote Ratte, gar kein zerquetschtes Katzenvieh, denke ich, und ich trete einen Schritt zurück. Mit dem Vorderfuß schiebe ich das Weiche in die Straßenmitte. Ich stelle fest, daß es sich weder um eine tote Ratte noch um ein zerquetschtes Katzenvieh, um gar kein Aas handelt. Um was dann? Wenn es sich um kein Aas handelt, um was dann? Niemand beobachtet mich in der Finsternis. Ein Handgriff und ich weiß, es handelt sich um eine Mütze. Um eine Schildmütze. Um eine Schildmütze, wie sie die Fleischhauer, aber auch die Holzfällerund die Bauern in der Gegend auf dem Kopf haben. Eine Schildmütze, denke ich, und jetzt habe ich auf einmal eine solche Schildmütze, wie ich sie immer auf den Köpfen der Fleischhauer und der Holzfäller und der Bauern beobachtet habe, in der Hand. Was tun mit der Mütze? Ich probierte sie und sie paßte. Angenehm, eine solche Mütze, dachte ich, aber du kannst sie nicht aufsetzen, weil du weder ein Fleischhauer noch ein Holzfäller, noch ein Bauer bist. Wie klug sind die, die solche Mützen aufhaben, denke ich. In dieser Kälte! Vielleicht, denke ich, hat sie einer der Holzfäller, die in der Nacht mit dem Holzfällen so viel Lärm machen, daß ich es bis Unterach höre, verloren? Oder ein Bauer? Oder ein Fleischhauer? Wahrscheinlich ein Holzfäller. Ein Fleischhauer sicher! Dieses Hin- und Herraten, wer die Mütze verloren haben könnte, erhitzte mich. Zu allem Überfluß beschäftigte mich auch noch der Gedanke, was für eine Farbe die Mütze wohl hat. Ist sie schwarz? Ist sie grün? Grau? Es gibt grüne und schwarze und graue ... wenn sie schwarz ist ... wenn sie grau ist ... grün ... in dem fürchterlichen Vermutungsspiel entdecke ich mich noch immer auf der selben Stelle, auf welcher ich die Mütze gefunden habe. Wie lang liegt die Mütze schon auf der Straße? Wie angenehm diese Mütze auf dem Kopf ist, dachte ich. Dann behielt ich sie in der Hand. Wenn mich einer mit der Mütze auf dem Kopf sieht, dachte ich, so glaubt er in der Finsternis, die da herrscht, durch das Gebirge herrscht, durch das Gebirge und durch das Wasser des Sees, ich sei ein Fleischhauer oder ein Holzfäller, oder ein Bauer. Die Leute fallen sofort auf die Kleidung herein, auf Mützen, Röcke, Mäntel, Schuhe, sehen gar kein Gesicht, nicht den Gang, keine Kopfbewegung, sie bemerken nichts als die Kleidung, sie sehen nur den Rock und die Hose, in die man geschlüpft ist, die Schuhe und natürlich vor allem die Mütze, die man aufhat. Also bin ich für den, der mich mit dieser Mütze auf dem Kopf sieht, ein Fleischhauer oder ein Holzfäller oder ein Bauer. Also ist es mir, der ich wederein Fleischhauer noch ein Holzfäller, noch ein Bauer bin, nicht gestattet, die Mütze auf dem Kopf zu behalten. Das wäre ja eine Irreführung! Ein Betrug! Ein Rechtsbruch! Plötzlich glaubten alle, ich sei ein Fleischhauer, kein Forstwissenschaftler, ein Bauer, kein Forstwissenschaftler, ein Holzfäller, kein Forstwissenschaftler! Aber, wie kann ich mich denn noch immer als einen Forstwissenschaftler bezeichnen, wo ich doch die Forstwissenschaft schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr betreibe, ich bin aus Wien fort, ich bin aus meinem Laboratorium fort, ich bin ja schon gänzlich aus allen meinen Wissenschafts-, meinen Forstkontakten, ich habe mit Wien auch die Forstwissenschaft, und zwar als ein bedauerliches Opfer meines eigenen Kopfes, verlassen, zurücklassen müssen. Drei Jahre ist es her, daß ich von meinen erstaunlichen Experimenten, Entdeckungen weg in die Hände der Kopfspezialisten gestürzt bin. Daß ich von einer Kopfklinik in die andere gestürzt bin. Überhaupt habe ich in den letzten, ich kann sagen, vier Jahren, mein Leben nur noch in den Händen von allen möglichen Kopfspezialisten zugebracht, auf die erbärmlichste Weise zugebracht. Und ich existiere ja noch heute nur aus den Ratschlägen aller meiner Kopfspezialisten, wenn ich sie auch nicht mehr aufsuche, zugegeben. Ich existiere dank den Tausenden und Hunderttausenden von Medikamenten, die mir meine Kopfspezialisten verschrieben haben, von diesen Hunderten und Tausenden von Medikamentenvorschlägen! Ich injiziere mir meine Existenzmöglichkeit tagtäglich zu den eben von diesen Kopfspezialisten angegebenen Zeiten! Ich habe meine Injektionsapparatur ständig in der Tasche. Nein, ich bin kein Forstwissenschaftler mehr, ich bin keine Forscherpersönlichkeit mehr, ich

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