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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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meines Kopfes meine ganze Aufmerksamkeit, meine ganze Existenz in Anspruch nimmt. Die Dämmerung und die auf die Dämmerung folgende Finsternis in Unterach kann ich nicht in meinem Zimmer aushalten, aus diesem Grund laufe ich jeden Tag, wenn die Dämmerung die Finsternis in diese grauenhafte Gebirgsatmosphäre hereinzieht, aus meinem Zimmer hinaus und aus dem Haus hinaus auf die Straße. Ich habe dann nur drei Möglichkeiten: entweder in Richtung Parschallen oder in Richtung Burgau oder in Richtung Mondsee zu laufen. Ich bin aber noch nie in die Richtung nach Mondsee gelaufen, weil ich diese Richtung fürchte, ich laufe die ganze Zeit nur nach Burgau; aber heute bin ich auf einmal nach Parschallen gelaufen. Ich bin, weil mich meine Krankheit, meine mich nun schon vier Jahre quälende Cephalalgie, in der Dämmerung (hier jetzt schon sehr früh, schon um halb fünf!) aus meinem Zimmer ins Vorhaus, in der Finsternis auf die Straße und, weil ich mir, einem plötzlichen Wink aus meinem Kopfe gehorchend, eine viel größere Tortur als an den Vortagen antun wollte, nicht nach Burgau, wie das, seit ich mich in Unterach aufhalte, meine Gewohnheit ist, sondern in den häßlichen Ort Parschallen, wo es acht Fleischhauer gibt, wie ich jetzt weiß, obwohl keine hundert Leute in dem Ort leben, man stelle sich vor: acht Fleischhauer und nicht einmal hundert Leute ... Ich wollte mir heute nicht nur die Burgauer, sondern die viel größere Parschallener Erschöpfung herbeiführen, ich wollte schlafen, ein schlafen, endlich einmal wiedereinschlafen. Aber jetzt ist, weil ich mich entschlossen habe, diese Sätze zu schreiben, an ein Einschlafen überhaupt nicht mehr zu denken. Eine Parschallener Erschöpfung erschien mir für heute von Vorteil, also lief ich in Richtung Parschallen. Meine Krankheit ist in Unterach wieder auf einem Höhepunkt angelangt, sie macht mich jetzt in der Weise verrückt, daß ich Angst habe, ich könnte mich unter Außerachtlassung meines geliebten, in Amerika herumreisenden Bruders an einem Baum erhängen, ins Wasser gehen; die Eisdecken sind noch dünn, und man geht gleich unter. Ich bin Nichtschwimmer, das kommt mir dann doch zugute ... Ich erwäge, das ist die Wahrheit, schon wochenlang meinen Selbstmord. Mir fehlt es aber an Entschlußkraft. Aber selbst wenn ich mich endlich entschlösse, mich aufzuhängen oder in einem Wasser zu ertränken, so hinge ich doch noch lange nicht, so wäre ich auch noch lang nicht ertrunken. Eine ungeheuere Kraftlosigkeit, und infolgedessen Nutzlosigkeit, beherrscht mich. Dabei bieten sich mir die Bäume förmlich an, das Wasser macht mir den Hof, es versucht, mich hineinzuziehen ... Aber ich gehe, ich laufe hin und her, und ich springe in kein Wasser hinein, ich hänge mich an keinem Baum auf. Weil ich nicht tue, was das Wasser will, fürchte ich das Wasser, weil ich nicht tue, was die Bäume wollen, fürchte ich die Bäume ... alles fürchte ich ... Und dazu, muß man sich vorstellen, gehe ich in meinem einzigen Rock, der ein Sommerrock ist, ohne Mantel, ohne Weste, mit meiner Sommerhose und in Sommerschuhen ... Ich erfriere aber nicht, im Gegenteil, alles in mir ist von einer fürchterlichen Hitze ständig aufgehetzt, ich bin von meiner Kopfhitze angetrieben. Selbst wenn ich völlig nackt nach Parschallen liefe, könnte ich nicht erfrieren. Zur Sache: ich bin nach Parschallen gelaufen, weil ich nicht verrückt werden will; ich muß aus dem Haus, wenn ich nicht verrückt werden will. Die Wahrheit aber ist, daß ich verrückt werden will, ich will verrückt werden , nichts lieber, als wirklich verrückt werden, aber ich befürchte, daß ichnoch lang nicht verrückt werden kann . Ich will endlich verrückt werden! Ich will nicht nur Angst haben vor dem Verrücktwerden, ich will endlich verrückt werden. Mir haben zwei Ärzte, wovon einer ein höchst wissenschaftlicher Arzt ist, prophezeit, daß ich verrückt werde, in Kürze würde ich verrückt werden, haben mir die beiden Ärzte prophezeit, in Kürze, in Kürze; jetzt warte ich schon zwei Jahre darauf, verrückt zu werden, aber verrückt geworden bin ich noch immer nicht. Aber ich denke, in der Dämmerung und in der plötzlichen Finsternis, die ganze Zeit, daß ich, wenn ich am Abend in meinem Zimmer, wenn ich im ganzen Haus nichts mehr sehe, wenn ich, was ich anrühre, nicht mehr sehe, zwar vieles höre , aber nichts sehe , höre und wie höre, aber nichts sehe, wenn ich diesen entsetzlichen Zustand aushalten, die

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