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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Dämmerung und die Finsternis in meinem Zimmer oder wenigstens im Vorhaus oder wenigstens irgendwo im Haus aushalten würde, wenn ich, ungeachtet des ja tatsächlich unvorstellbaren Schmerzes, das Haus auf gar keinen Fall verlassen würde, daß ich dann verrückt werden müßte . Aber ich werde den Zustand der Dämmerung und der plötzlichen Finsternis nie aushalten, ich werde immer wieder aus dem Haus laufen müssen, solange ich in Unterach bin, und ich bin so lange in Unterach, bis mein Bruder aus Amerika zurück ist, aus Stanford und Princeton zurück ist, von allen nordamerikanischen Universitäten zurück ist, so lange, bis die Jalousien wieder geöffnet, die Dienstboten wieder im Haus sind. Ich werde immer wieder aus dem Haus laufen müssen ... Und das geht so: Ich halte es nicht mehr aus und laufe fort, ich sperre alle Türen hinter mir zu, die ganzen Taschen habe ich dann voller Schlüssel, ich habe so viele Schlüssel in meinen Taschen, vornehmlich in den Hosentaschen, daß ich, wenn ich laufe, einen entsetzlichen Lärm mache, und nicht nur einen entsetzlichen Lärm, ein fürchterliches Geklirre, die Schlüssel bearbeiten, wenn ich laufe, wenn ich nach Burgau oder, wie heute abend, nach Parschallen hinüberhetze, meine Oberschenkel und meinenBauch, und die in den Rocktaschen bearbeiten meine Hüften und verletzen mein Rippenfell, weil sie sich durch die große Geschwindigkeit, die ich sofort nach dem Verlassen des Hauses erreichen muß, an meinem unruhigen Körper sperren , allein von den Hosensackschlüsseln habe ich mehrere Verletzungen, jetzt sogar schon eiternde Wunden an meinem Bauch, vor allem, weil ich in der Finsternis auf dem brutalen Gefrorenen immer wieder ausrutsche, hinfalle. Obwohl ich jetzt schon Hunderte Male diese Straßen aufund abgelaufen bin, falle ich immer noch hin. Vorgestern bin ich viermal hingefallen, letzten Sonntag zwölfmal, und habe mir, was ich erst zu Hause bemerkt habe, mein Kinn verletzt; mein Kopfschmerz hat mich meinen Kinnschmerz gar nicht wahrnehmen lassen, also kann man sich vorstellen, wie groß mein Kopfschmerz ist, wenn er diesen Kinnschmerz, hervorgerufen von einer tiefen Wunde in den Unterkiefer hinein, hat unterdrücken können. In dem großen Spiegel in meinem Zimmer, in welchem ich, wenn ich heimkomme, sofort den Grad meiner Erschöpfung feststelle, meiner Körpererschöpfung , meiner Geisteserschöpfung , meiner Tageserschöpfung , habe ich dann die Kinnverletzung gesehen (eine solche Verletzung hätte ja von einem Arzt zusammengenäht werden müssen, aber ich habe keinen Arzt aufgesucht, ich suche nie mehr einen Arzt auf, ich verabscheue die Ärzte, ich lasse diese Kinnwunde, wie sie ist), zuerst nicht einmal die Kinnverletzung selbst, sondern eine große Menge gestockten Blutes auf meinem Rock. Ich bin erschrocken, wie ich den blutigen Rock gesehen habe, denn nun ist, fuhr es mir durch den Kopf, der einzige Rock, den ich habe, blutig. Aber, sagte ich mir sofort, ich gehe ja nur in der Dämmerung, nur in der Finsternis auf die Straße, also sieht kein Mensch, daß mein Rock blutig ist. Ich selber aber weiß , daß mein Rock blutig ist. Ich habe auch gar nicht versucht, meinen blutigen Rock zu reinigen. Noch vor dem Spiegel bin ich in ein Gelächter ausgebrochen, und während dieses Gelächters habe ich dann gesehen, daß ich mir ja dasKinn aufgeschlagen habe, daß ich eine schwere Körperverletzung an mir herumtrage. Merkwürdig, wie du mit einem aufgeschlagenen Kinn ausschaust, habe ich mir gedacht, wie ich mich im Spiegel mit dem aufgeschlagenen Kinn gesehen habe. Abgesehen davon, daß mich diese Kinnwunde entstellte, meine ganze Person hatte auf einmal auch noch einen unübersehbaren Zug ins Lächerliche, ja, in die absolute menschliche Komödie, und ich mir das Blut aus der Kinnwunde auf dem Heimweg ohne mein Wissen mit den Händen ins ganze Gesicht bis hoch in die Stirn hinauf geschmiert hatte, in die Haare! abgesehen davon, hatte ich mir auch meine Hose zerrissen. Aber wie gesagt, das war letzten Sonntag, nicht heute, und ich will sagen, daß ich heute auf dem Weg nach Parschallen eine Mütze gefunden habe und daß ich diese Mütze jetzt, während ich dies aufschreibe, aufhabe, ja ich habe die gefundene Mütze aus verschiedenen Gründen auf ... diese graue, dicke, derbe, schmutzige Mütze, ich habe sie schon so lange auf, daß sie schon meinen eigenen Kopfgeruch angenommen hat ... Ich habe sie aufgesetzt, weil ich sie nicht mehr habe sehen wollen. Ich

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