Erzaehlungen
bekomme keine Antwort, sagte sie, »nichts«. Ich ging sofort in den ersten Stock hinauf und zu der Zimmertür und klopfte. Nichts. Ich klopfte noch einmal und sagte, das Mädchen solle aufmachen. »Aufmachen! Aufmachen!« sagte ich mehrere Male. Nichts. Da kein zweiter Zimmerschlüssel da ist, müsse man die Tür aufbrechen, sagte ich. Die Wirtin gab wortlos ihr Einverständnis, daß ich die Tür aufbreche. Ich brauchte nur einmal kräftig meinen Oberkörper an den Türrahmen drücken und die Tür war offen. Das Mädchen lag quer über das Doppelbett, bewußtlos. Ich schickte die Wirtin zum Inspektor. Ich konstatierte eine schwere Medikamentenvergiftung bei dem Mädchen und deckte es mit dem Wintermantel zu, den ich vom Fensterkreuz heruntergenommen hatte, offensichtlich war das der Wintermantel des jungen Mannes. Wo ist der? Unausgesprochen fragte sich jeder, wo der junge Mann ist. Ich dachte, daß das Mädchen den Selbstmordversuch tatsächlich erst nach dem Verschwinden des jungen Mannes (ihres Verlobten?) unternommen hat. Auf dem Boden verstreut lagen Tabletten. Der Inspektor war ratlos. Nun müsse man warten, bis der Arzt da sei, und alle sahen wir wieder, wie schwierig es ist, einen Arzt nach Mühlbach herauf zu bekommen. Es könne eine Stunde dauern, bis der Arztkommt, meinte der Inspektor. Zwei Stunden. In Mühlbach nur nie in die Lage kommen, einen Arzt zu brauchen, sagte er. Namen, Daten, dachte ich, Daten, und ich durchsuchte die Handtasche des Mädchens, erfolglos. Im Mantel, dachte ich und ich suchte in dem Mantel, mit dem ich das Mädchen zugedeckt hatte, nach einer Brieftasche. Tatsächlich befand sich in dem Mantel die Brieftasche des jungen Mannes. Auch sein Paß war in dem Mantel. WÖLSER ALOIS, GEB. 27. 1. 1939 IN RETTENEGG, RETTENEGG BEI MÜRZZUSCHLAG, las ich. Wo ist der Mann? Ihr Verlobter? Ich lief ins Gastzimmer hinunter und verständigte per Telefon alle Posten von dem Vorfall, der mir für einen Haftbefehl gegen Wölser ausreichend erschien. Mit dem Arzt hat es größte Eile, dachte ich, und als der eine halbe Stunde später erschien, war es zu spät: das Mädchen war tot.
Das vereinfacht jetzt alles, dachte ich, das Mädchen bleibt in Mühlbach.
Die Wirtin drängte, daß man die Leiche aus dem Gasthaus hinausschaffe, in die Leichenkammer hinüber. Dort lag das Mädchen, ununterbrochen von den neugierigen Mühlbachern angestarrt, zwei Tage, bis seine Eltern ausgeforscht werden konnten und am dritten Tag endlich in Mühlbach erschienen, die Wölser , Wölsers Eltern, die auch die Eltern des Mädchens waren, der junge Mann und das Mädchen waren, wie sich zum Entsetzen aller herausstellte, Geschwister. Das Mädchen wurde sofort nach Mürzzuschlag überführt, die Eltern begleiteten es im Leichenwagen. Der Bruder und Sohn blieb dann unauffindbar.
Gestern, den achtundzwanzigsten, fanden ihn überraschend zwei Holzzieher knapp unterhalb der Baumgrenze über Mühlbach erfroren und mit zwei von ihm erschlagenen schweren Gemsen zugedeckt.
M IDLAND IN S TILFS
Außenstehende, Nichtvertraute unserer Erziehung, mögen unser Verhalten, ist der Engländer da, als ein verrücktes anschauen, uns selbst, unsere Atmosphäre in Stilfs, als eine künstliche, unerträgliche. Obwohl wir ständig in der Furcht existieren, unser Freund könnte uns plötzlich aufsuchen, das ganze Jahr fürchten wir das, von einem Augenblick auf den andern in Stilfs sein, denken wir gleichzeitig die ganze Zeit: wenn unser Freund doch nur plötzlich auftauchte, da wäre!, denn nichts ist fürchterlicher, für uns alle bedrohlicher mit der Zeit, insbesondere gegen das Winterende, als hier in Stilfs, in den Bergen, besser, im Hochgebirge, das hier unumschränkt als die absolute Natur herrscht, über lange, ja längste Zeit allein, auf uns angewiesen zu sein, ohne Eindringling, ohne Ausländer. Wir fürchten, ja, wir hassen Besucher und wir klammern uns gleichzeitig mit der Verzweiflung der von der Außenwelt gänzlich Abgeschnittenen an sie. Unser Schicksal heißt Stilfs, immerwährende Einsamkeit. In Wahrheit können wir die Personen an unsern Fingern abzählen, die uns dann und wann als sogenannte erwünschte Personen aufsuchen, aber auch vor diesen erwünschten Personen haben wir Angst, sie könnten uns aufsuchen, weil wir vor allen Menschen, die uns aufsuchen könnten, Angst haben, wir haben eine ungeheure Angst davor entwickelt, es könnte uns überhaupt ein Mensch plötzlich aufsuchen, obwohl wir nichts mit größerer
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