Erzaehlungen
mehr gekostet. Von einigen Herren wurde sie mit Interesse betrachtet, ja manchmal blieb einer stehen und sah ihr nach. Es tat ihr leid, daß sie so unvorteilhaft angezogen war, und sie freute sich, bald das schöne Kleid aus dem Atelier der Wiener Schneiderin zu bekommen. Sie hätte gewünscht, von irgend jemandem verfolgt zu werden. Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: wenn sie Emil Lindbach begegnete, ob er sie erkennen würde? Welche Frage! Aber solche Zufälle gibt es nicht – nein, sie war ganz sicher, sie konnte tagelang in Wien herumgehen, nie würde sie ihm begegnen. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen? Sieben – acht Jahre ... Ja, zwei Jahre vor ihrer Verheiratung hatte sie ihn das letztemal gesehen. Sie war mit ihren Eltern an einem warmen Sommerabend im Prater im Schweizerhaus gewesen, mit einem Freund war er vorübergegangen und ein paar Minuten an ihrem Tisch stehen geblieben. Ah, nun besann sie sich darauf, daß auch der junge Arzt an ihrem Tisch gesessen war, der sich um sie bewarb. Was Emil damals gesprochen, wußte sie nicht mehr, doch erinnerte sie sich, daß er die ganze Zeit, während er vor ihr gestanden, seinen Hut in der Hand gehalten, was ihr unsagbar gefiel. Ob er das heute auch täte, wenn sie ihm begegnete? Wo mochte er jetzt wohnen? Zu jener Zeit hatte er ein Zimmer auf der Wieden gehabt, nah von der Paulanerkirche ... ja, er hatte ihr das Fenster gezeigt, als sie einmal vorübergingen, und bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung gewagt – des Wortlauts entsann sie sich nicht mehr, aber der Sinn war bestimmt der gewesen, daß sie mit ihm in diesem Zimmer zusammen sein sollte. Sie hatte ihn damals sehr streng zurechtgewiesen, ja, sie hatte erwidert, wenn er so von ihr dächte, wäre alles aus. Und er sprach wirklich nie wieder davon. Ob sie das Fenster wiedererkannte? Ob sie es fände? Wahrhaftig, ob sie hier spazieren ging oder dort, das war doch einerlei. Sie ging rasch, als ob sie plötzlich ein Ziel gefunden, der Wieden zu. Sie staunte, wie sich hier alles verändert hatte. Wie sie von der Elisabethbrücke aus hinunterschaute, sah sie Mauern, die aus dem Wienbett aufstiegen, halbfertige Geleise, kleine Waggons in Bewegung und beschäftigte Arbeiter. Bald hatte sie die Paulanerkirche erreicht, auf demselben Weg, den sie in früherer Zeit so oft gegangen. Aber nun hielt sie inne; sie konnte sich durchaus nicht mehr besinnen, wo Emil gewohnt hatte, ob sie rechts, ob sie links gehen müsse. Sonderbar, wie gänzlich ihr das entfallen war! Sie ging langsam wieder zurück, bis zum Konservatorium. Dort blieb sie stehen. Oben waren die Fenster, von denen aus sie so oft die Kuppel der Karlskirche betrachtet, und sehnsüchtig das Ende der Stunde erwartet hatte, um mit Emil zusammenzutreffen. Wie lieb hatte sie ihn doch gehabt, und wie sonderbar war es, daß es so ganz aufhören konnte! Sie ging nun hier herum als Witwe, war es schon jahrelang, hatte daheim ein Kind, das heranwuchs, – und wenn sie gestorben wäre, Emil hätt' es gar nicht erfahren, oder vielleicht erst Jahre später. Ihr Auge fiel auf ein großes Plakat, das auf das Eingangstor geheftet war. Das Konzert war angekündigt, in dem auch er mitwirken würde, und hier stand sein Name unter vielen anderen großen, von denen sie manche seit lang mit stiller Scheu bewundert: »Brahm's Violinkonzert, vorgetragen von dem königlich bayrischen Kammervirtuosen Emil Lindbach.« – Bayrischer Kammervirtuose, das hatte sie gar nicht gewußt. Es war ihr, als könnte der, dessen Name hier auf sie herableuchtete, im nächsten Moment aus der Einfahrt heraustreten, den Violinkasten in der Hand, die Zigarette zwischen den Lippen. So nah war das alles plötzlich und schien noch näher, als mit einemmal von oben die langgezogenen Striche einer Violine zu ihr heruntertönten, wie sie sie damals so oft gehört. Sie wollte zu diesem Konzert nach Wien hereinfahren – ja, und wenn sie auch eine Nacht im Hotel verbringen müßte! Und sie würde sich weit vorne hinsetzen und ihn ganz in der Nähe sehen. Ob er sie auch sehen und sie erkennen würde? Sie stand noch immer vor dem gelben Plakat, ganz versunken, bis sie sich von ein paar jungen Leuten, die aus der Einfahrt herauskamen, angestarrt fühlte und nun auch wußte, daß sie die ganze Zeit gelächelt hatte wie in einem schönen Traum. Sie setzte ihren Weg fort. Auch die Gegend um den Stadtpark hatte sich verändert, und als sie die Stellen suchte, wo sie damals mit ihm herumgegangen war, fand sie sie
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