Erzaehlungen
neben ihm lag, und hob ihn gebieterisch, worauf der Kellner das Ehepaar Martin zur Tür hinausjagte. Darüber mußte Berta lachen, viel zu laut, denn sie hatte schon ganz verlernt, wie man sich in einem vornehmen Restaurant benimmt. Aber es ist ja gar nicht vornehm, es ist einfach die Gaststube »Zum roten Apfel«, und die Militärkapelle spielt irgendwo, ohne daß man sie sieht. Das ist nämlich eine Kunst des Herrn Rupius, daß Militärkapellen spielen können, ohne daß man sie sieht. Jetzt aber kommt gleich ihre Nummer dran. Hier ist das Klavier, – aber sie hat ja gewiß das Klavierspielen längst verlernt, sie wird lieber entfliehen, damit man sie nicht zwingt. Und gleich ist sie auf dem Bahnhof, Frau Rupius erwartet sie schon und sagt: Es ist höchste Zeit, – und sie gibt ihr ein großes Buch in die Hand, das ist nämlich die Fahrkarte. Doch Frau Rupius fährt gar nicht weg, sie setzt sich auf eine Bank, ißt Kirschen und spuckt die Kerne auf den Stationschef, der sich darüber sehr freut. Berta steigt ins Kupee, – Gott sei Dank, daß Klingemann schon da ist! – er winkt ihr mit gekniffenen Augen zu und sagt: Wissen Sie, was das für ein Leichenzug ist? Und Berta sieht, daß auf dem anderen Gleise ein Leichenwagen steht. Sie erinnert sich nun, daß der Hauptmann gestorben ist, mit dem die Tabaktrafikantin den Herrn Klingemann betrogen hat, – natürlich: darum war heute das Konzert im »Roten Apfel«. Plötzlich bläst ihr Herr Klingemann auf die Augen, lacht, daß es dröhnt, Berta schlägt die Augen auf – da saust eben ein Zug am Fenster vorbei. Sie schüttelt sich. – Was für wirre Träume! Und fing es nicht sehr schön an? Sie versucht, sich zu besinnen. Ja, Emil spielte eine Rolle ... aber sie weiß nicht mehr, welche.
Die Dämmerung bricht langsam herein. Der Zug fährt die Donau entlang. Frau Rupius schläft und lächelt, vielleicht auch stellt sie sich nur schlafend; der leise Verdacht in Berta kommt von neuem, und ein Neid gegen das Unbekannte, Geheimnisvolle, das Frau Rupius erlebt, steigt in ihr auf. Sie möchte auch etwas erleben. Sie wünscht, daß jetzt irgend jemand neben ihr säße, seinen Arm an den ihren gedrängt, – sie möchte wieder dasselbe empfinden wie damals, als sie mit Emil am Wienufer stand, und ihr die Sinne beinah vergehen wollten, und sie sich nach einem Kinde sehnte ... Ah, warum ist sie so allein, so arm, so im Dunkeln? Sie möchte den Geliebten ihrer Jugend anflehen: Küß mich nur noch einmal wie damals, ich möchte glücklich sein!
Es ist dunkel, Berta sieht in die Nacht hinaus.
Noch heute, bevor sie schlafen geht, wird sie die kleine Tasche vom Boden holen, in der die Briefe ihrer Eltern und Emils aufbewahrt sind. Sie sehnt sich, daheim zu sein. Es ist ihr, als sei eine Frage in ihrer Seele aufgewacht, auf die zu Hause die Antwort wartet.
Als Berta am späten Abend in ihr Zimmer trat, kam ihr der Einfall, noch jetzt allein auf den Boden hinaufzugehen und die Tasche herunterzuholen, beinahe abenteuerlich vor. Sie fürchtete, daß man im Hause ihre nächtige Wanderung bemerken und sie für verrückt halten möchte. Sie konnte es ja morgen ohne Aufsehen, in größter Bequemlichkeit tun, und so schlief sie mit der Empfindung eines Kindes ein, dem für den folgenden Tag ein Ausflug aufs Land versprochen ist.
Am nächsten Vormittag hatte sie mancherlei zu tun; häusliche Beschäftigungen und die Klavierlektionen nahmen den Vormittag in Anspruch. Ihrer Schwägerin mußte sie von ihrer Wiener Reise berichten. Sie erzählte, daß sie mit ihrer Cousine nachmittags spazieren gegangen wäre, und stellte die Sache so dar, als hätte sie auf Ersuchen der Cousine der Frau Rupius abgeschrieben.
Erst nachmittags ging sie auf den Dachboden und holte die verstaubte Reisetasche herunter, die neben einem Koffer und zwei Kisten lag – alles zusammen von einem alten, rotgeblümten, zerschlissenen Kaffeetuch überdeckt. Berta wußte, daß sie sie das letztemal aufgeschlossen, um Briefschaften aufzubewahren, die ihre Eltern hinterlassen hatten. Als sie die Tasche in ihrem Zimmer öffnete, erblickte sie auch vor allem eine Anzahl von Briefen ihrer Brüder und andere mit unbekannten Schriftzügen; dann fand sie ein wohlgesichtetes Päckchen, die spärlichen Briefe ihrer Eltern an sie enthaltend; zwei Haushaltungsbücher ihrer Mutter, ein kleines Heft aus ihrer eigenen Schulzeit, darin sie Stundenpläne und Aufgaben eingezeichnet, dann einige Damenspenden von den Bällen, die sie
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