Erzaehlungen
als junges Mädchen besucht, und endlich, in blaues Seidenpapier gewickelt, das an einigen Stellen eingerissen war, Emils Briefe. Nun wußte sie sich auch auf den Tag zu besinnen, da sie diese das letztemal in der Hand gehabt, ohne sie zu lesen; das war, als ihr Vater schon krank gelegen und sie tagelang gar nicht aus dem Haus gekommen war. Sie legte das Päckchen beiseite. Sie wollte zuerst alles andere sehen, was hier noch aufbewahrt und worauf sie sehr neugierig war. Ganz lose lag eine Anzahl von Briefen auf dem Grund der Tasche, einige im Kuvert, andere ohne Hülle; sie blickte wahllos den einen und den anderen an. Es waren Briefe von alten Freundinnen, ein paar von ihrer Cousine, und hier einer von dem Arzte, der sich seinerzeit um sie beworben; er enthielt die Bitte um den ersten Walzer auf dem Medizinerkränzchen. Und hier – was war denn das? Ja, das war der anonyme Brief, den ihr einer ins Konservatorium geschickt. Sie nahm ihn zur Hand: »Mein Fräulein! Ich hatte gestern wieder das Glück, Sie auf Ihrem täglichen Weg zu bewundern, ich weiß nicht, ob auch ich das Glück hatte, von Ihnen bemerkt zu werden.« Nein, dieses Glück hatte er nicht gehabt. Dann kamen noch drei Seiten, auf denen sie angeschwärmt wurde; kein Wunsch, kein kühnes Wort. Auch hatte sie nie wieder etwas von dem Schreiber gehört. Und hier ein Brief, mit zwei Initialen unterschrieben: M.G. – Das war dieser Unverschämte gewesen, der sie auf der Straße angesprochen und ihr in diesem Brief Anträge gestellt hatte – ja, welche denn nur? Ah, hier war die Stelle, die ihr damals das Blut in den Kopf getrieben: »Seit ich Sie gesehen, seit Sie Ihren strengen und doch so verheißenden Blick auf mich gerichtet hielten, hab' ich nur mehr einen Traum, eine Sehnsucht: diese Augen küssen zu dürfen!« – Sie hatte natürlich nicht geantwortet; es war die Zeit gewesen, in welcher sie Emil liebte. Ja, sie hatte sogar daran gedacht, ihm diesen Brief zu zeigen, aber die Angst vor seiner Eifersucht hielt sie zurück. Nie hatte Emil von M.G. etwas erfahren. – Und das weiche Band, das ihr jetzt in die Hände geriet –? Eine Schleife ... Aber sie wußte nicht, woran sie die erinnern sollte. Und hier wieder ein kleines Tanzalbum, wo die Namen ihrer Tänzer eingetragen waren. Sie versuchte, sich der Personen zu erinnern, aber vergeblich. Und dabei war ja gerade auf diesem Ball einer gewesen, der ihr so glühende Worte gesagt hatte wie nie ein anderer. Es war ihr, als tauchte der plötzlich wie ein Sieger auf unter den vielen Schatten, die sie umschwebten. Ja, das war schon zu der Zeit gewesen, da Emil und sie einander seltener sahen. Wie sonderbar war das ... oder hatte sie es nur geträumt? Dieser Glühende drückte sie während des Tanzes an sich, – und sie wehrte sich gar nicht, und fühlte seine Lippen auf ihrem Haar, und es war unglaublich schön ... Ja, und weiter? – Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Es war ihr plötzlich, als hätte sie in jener Zeit doch vieles und Seltsames erlebt, und wie in ein Staunen versank sie, daß alle diese Erinnerungen so lang in der alten Reisetasche und in ihrer Seele geschlafen hatten ... Doch nein! Manchmal hatte sie an alle diese Dinge gedacht: an Leute, die ihr den Hof gemacht, an den anonymen Brief, an den glühenden Tänzer, an die Spaziergänge mit Emil, – aber als wenn es weiter nichts Besonderes, als wenn es eben die Vergangenheit wäre, die Jugend, die jedem Mädchen beschieden ist und aus der sie in das stille Frauenleben eingeht. Heute aber schien ihr, als wären diese Erinnerungen zugleich uneingelöste Versprechungen, als lägen in jenen fernen Erlebnissen verkümmerte Schicksale, ja als wäre irgendein Betrug an ihr verübt worden, seit lang, von dem Tage an, da sie geheiratet, bis zum heutigen Tag, und als wäre sie zu spät darauf gekommen, stünde nun da und könnte nichts mehr tun. Doch wie war denn das? ... An alle diese Nichtigkeiten dachte sie, und hier neben ihr lag noch immer, in Seidenpapier eingewickelt, der Schatz, um dessentwillen sie ja in der alten Tasche herumgekramt, die Briefe des einzigen, den sie geliebt hatte, die Briefe aus der Zeit, da sie glücklich gewesen. Wie viele mochten sie heute darum beneiden, daß gerade dieser sie einmal geliebt, – anders, besser, keuscher sie als alle anderen nach ihr. Und sie fühlte sich am tiefsten betrogen, weil sie, die seine Frau hätte sein können, wenn ... wenn ... Ihre Gedanken stockten. Rasch, wie um sich von Zweifel, ja von
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