Erzaehlungen
bleibt Anna doch bei ihm.
Sie verließ das Haus. Trotz des Regens ging sie vorerst hinaus ins Freie. So ruhig wie heute war sie lange nicht gewesen, sie freute sich dieses Tages ohne Aufregung, ohne Angst, ohne Erwartung. Könnte es doch immer so sein! Es war wunderbar, mit welcher Gleichgültigkeit sie an Emil dachte. Am liebsten hätte sie gar nichts mehr von ihm hören und diese Ruhe für alle Zeit bewahren wollen ... Ja, so war es schön und gut. In der kleinen Stadt leben, die paar Lektionen geben, die doch keine große Anstrengung verursachten, den Buben aufziehen, ihn lesen, schreiben, rechnen lehren! – War denn das, was sie in den letzten Tagen erlebt, so viel Kummer, – so viel Demütigung wert? ... Nein, sie war zu solchen Dingen nicht geschaffen. Es war ihr, als klänge ihr der Lärm der großen Stadt, der sie das letztemal nicht gestört, jetzt erst in den Ohren; und sie freute sich der schönen Stille, die sie hier umgab.
So erschien ihr die tiefe Ermattung, darein ihre Seele nach den ungewohnten Erregungen versunken war, wie eine endgültige Beruhigung ... Und doch, schon nach kurzer Zeit, als sie sich der Stadt wieder zuwandte, schwand diese innere Ruhe allmählich, und unbestimmte Ahnungen von neuen Aufregungen und Leiden erwachten. Der Anblick eines jungen Paares, das an ihr vorüberging, eng aneinandergepreßt, unter aufgespanntem Regenschirm, jagte die Sehnsucht nach Emil in ihr auf; sie wehrte sich nicht dagegen, denn sie wußte schon: in ihr war alles so umgewühlt, daß jeder Hauch anderes und meist das Unvermutete an die Oberfläche ihrer Seele brachte.
Es dämmerte, als Berta zu Herrn Rupius ins Zimmer trat. Er saß am Tisch, eine Mappe mit Bildern vor sich. Die Hängelampe war angezündet. Er sah auf und erwiderte ihren Gruß. Dann sagte er: »Sie sind ja schon seit vorgestern Abend wieder zurück.« Es klang wie ein Vorwurf, und Berta fühlte sich schuldig. »Nun, setzen Sie sich,« fuhr er fort, »und erzählen Sie mir, was Sie in der Stadt erlebt haben.«
»Erlebt hab' ich nichts. Im Museum bin ich gewesen, hab' auch manche von Ihren Bildern wiedererkannt.«
Rupius antwortete nichts.
»Ihre Frau kommt noch heute Abend zurück?«
»Ich glaube nicht.« Er schwieg; dann sagte er mit absichtlicher Trockenheit: »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen neulich Dinge gesagt, die Sie ja unmöglich interessieren können. Im übrigen glaub' ich nicht, daß meine Frau heute wiederkommen wird.«
»Aber .... Sie sagte mir ja selbst ....«
»Ja, auch mir. Sie wollte mir einfach den Abschied ersparen, vielmehr die Komödie des Abschieds. Damit mein' ich gar nicht etwas Verlogenes, sondern nur die Dinge, die das Abschiednehmen zu begleiten pflegen: gerührte Worte, Tränen ... Nun, genug davon. Werden Sie mir zuweilen Gesellschaft leisten? Ich werde nämlich ziemlich allein sein, wenn meine Frau nicht mehr bei mir ist.« Der Ton, in dem er das alles sagte, stimmte in seiner Schärfe so wenig zu dem Inhalt der Rede, daß Berta vergeblich nach einer Erwiderung suchte. Aber Rupius sprach gleich weiter: »Nun, und außer dem Museum, was haben Sie noch gesehen?«
Berta begann mit großer Geschäftigkeit allerlei von ihrer Wiener Reise zu erzählen, auch von einem Jugendfreund berichtete sie, den sie nach langer Zeit wieder getroffen, und zwar, wie sonderbar! gerade vor dem Falckenborghischen Bild. Während sie so von Emil sprach, ohne seinen Namen zu nennen, wuchs ihre Sehnsucht ins Ungemessene, und sie dachte daran, ihm heute noch einmal zu schreiben.
Da sah sie, wie Rupius die Augen starr auf die Türe geheftet hielt. Seine Frau war eingetreten, kam lächelnd auf ihn zu, sagte: »Da bin ich wieder,« küßte ihn auf die Stirn und reichte Berta ihre Hand zum Gruß. »Guten Abend, Frau Rupius,« sagte Berta, höchst erfreut. Herr Rupius sprach kein Wort, doch sein Antlitz schien in heftiger Bewegung. Frau Rupius, die noch den Hut nicht abgelegt hatte, wandte sich einen Augenblick ab, da bemerkte Berta, wie Rupius sein Gesicht auf beide Hände stützte und in sich hinein zu schluchzen begann.
Berta ging. Sie war froh, daß Frau Rupius wiedergekommen war, es schien ihr wie eine gute Vorbedeutung. Morgen früh schon konnte der Brief da sein, der vielleicht ihr Schicksal entschied. Mit ihrer Ruhe war es wieder ganz vorbei; doch war ihr Wesen von einer anderen Sehnsucht erfüllt als früher. Sie wollte ihn nur da haben, in ihrer Nähe, sie hätte ihn nur sehen, an seiner Seite gehen
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