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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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wollen. Am Abend, nachdem sie ihren Buben zu Bett gebracht, blieb sie noch lang allein im Speisezimmer; sie spielte auch ein paar Akkorde auf dem Klavier, dann trat sie ans Fenster und sah ins Dunkel hinaus. Der Regen hatte aufgehört, die Erde trank die Feuchtigkeit ein, noch hingen die Wolken schwer über dem Land. Bertas ganzes Wesen wurde Sehnsucht, alles in ihr rief nach
ihm,
ihre Augen suchten ihn aus der Dunkelheit hervorzuschauen, ihre Lippen hauchten einen Kuß in die Luft, als könnte er die seinen erreichen, und unbewußt, als müßten ihre Wünsche in die Höhe, fort von allem andern, was sie umgab, flüsterte sie, indem sie zum Himmel aufschaute: »Gib mir ihn wieder!« ... Nie war sie so sein gewesen als in diesem Augenblick. Ihr war, als liebte sie ihn jetzt zum ersten Male. Nichts von allem war beigemischt, was sonst ihr Gefühl trübte, keine Angst, keine Sorge, kein Zweifel, alles in ihr war die reinste Zärtlichkeit, und als jetzt ein leichter Wind herangeweht kam und ihre Stirnhaare bewegte, war ihr, als käme der Hauch von ihm.
    Am nächsten Morgen kam kein Brief. Berta war ein wenig enttäuscht, aber nicht beunruhigt. Bald erschien Elly, die plötzlich eine große Lust bekommen hatte, mit dem Buben zu spielen. Das Dienstmädchen brachte vom Markt die Nachricht, daß man von Rupius aus sehr eilig zum Arzt geschickt hätte, doch wußte sie nicht, ob Herr oder Frau Rupius erkrankt sei. Berta beschloß, noch vor Tisch selbst anzufragen. Sie gab ihre Lektion bei Mahlmanns sehr zerstreut und nervös, dann ging sie zu Rupius. Das Dienstmädchen sagte ihr, die gnädige Frau wäre erkrankt und läge zu Bett, es sei nichts Gefährliches, aber Doktor Friedrich habe Besuche streng verboten. Berta erschrak. Sie hätte gern Herrn Rupius gesprochen, aber sie wollte nicht zudringlich sein.
    Nachmittags versuchte sie, den Unterricht ihres Buben fortzusetzen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Wieder war ihr, als würden durch die Erkrankung Annas ihre eigenen Hoffnungen beeinflußt; wenn Anna gesund wäre, müßte auch der Brief schon da sein. Sie wußte, daß das ganz unsinnig war, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.
    Nach fünf Uhr begab sie sich wieder zu Rupius. Das Mädchen ließ sie ein. Herr Rupius wollte sie selbst sprechen. Er saß in seinem Sessel am Tische. »Nun?« fragte Berta.
    »Eben ist der Doktor drin; wenn Sie ein paar Minuten warten wollen ...«
    Berta getraute sich nicht zu fragen. Beide schwiegen. Nach ein paar Sekunden trat Doktor Friedrich heraus. »Nun, es läßt sich noch nichts mit Bestimmtheit sagen,« sagte er langsam und setzte mit einem plötzlichen Entschluß hinzu: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, es ist durchaus notwendig, daß ich mit Herrn Rupius allein rede.«
    Rupius zuckte zusammen. Berta sagte mechanisch: »So will ich nicht stören« und entfernte sich. Aber in ihrer Erregung war es ihr unmöglich, nach Hause zu gehen, und sie nahm den Weg zwischen den Rebengeländen dem Friedhofe zu. Sie fühlte, daß irgend etwas Geheimnisvolles in jenem Hause vorging. Es kam ihr der Gedanke, ob Anna nicht einen Selbstmordversuch gemacht haben könnte. Wenn sie nur nicht stirbt, dachte sie. Und zugleich war der Gedanke da: wenn nur ein lieber Brief von Emil kommt! Sie schien sich von lauter Gefahren umgeben. Sie betrat den Friedhof. Es war heute ein schöner, warmer Sommertag, und die Blüten und Blumen dufteten neu nach dem gestrigen Regen. Berta ging den gewohnten Weg bis zum Grab ihres Mannes. Aber sie fühlte, daß sie hier gar nichts zu suchen hatte. Es war ihr beinah peinlich, die Worte auf dem Grabstein zu lesen, die ihr nicht das Geringste mehr bedeuteten: Viktor Mathias Garlan, gestorben am 6. Juni 1895. Jetzt schien ihr irgendein Spaziergang mit Emil vor zehn Jahren näher zu liegen als die Jahre, die sie an der Seite ihres Mannes verbracht. Das war überhaupt gar nichts mehr ... sie hätte gar nicht daran geglaubt, wenn Fritz nicht auf der Welt gewesen wäre .... Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: Fritz ist gar nicht sein Sohn ... am Ende ist er Emils Sohn ... Sind solche Dinge nicht möglich? ... Und es war ihr in diesem Augenblick, als könnte sie die Lehre vom heiligen Geist verstehen ... Dann erschrak sie selbst über das Unsinnige ihrer Gedanken. Sie blickte auf den breiten Weg, der von dem Tor des Kirchhofs gradlinig bis zur gegenüber liegenden Mauer zog, und mit einemmal wußte sie ganz bestimmt, daß man in wenigen Tagen den Sarg mit der Leiche der Frau

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