Erzaehlungen
murmelte »ah, was« und reichte Franz ein Zehnkronenstück. Franz riß unwillkürlich Mund und Augen auf. Ein ungeheures Entzücken erfüllte ihn. Er wußte, daß er in einer Minute essen konnte. Er roch den Duft von Braten und frisch gebackenem Brot. Mit Inbrunst faßte er die Hand des jungen Mannes – drückte sie und preßte sie endlich an die Lippen. Dieser wich, wie erstaunt, zurück, schien etwas fragen zu wollen, rasch aber besann er sich, ging eilends über die Fahrstraße, wand sich drüben zwischen zwei Wagen durch und verschwand in der Halle. Franz hatte ihm nachgeschaut, solang er konnte, in der dunklen Empfindung, daß er sich die Gestalt und den Gang seines Retters einprägen müsse. Dann führte er das Goldstück mit plötzlicher Angst näher an die Augen, und tief atmete er auf, als er sah, daß er sich nicht getäuscht hatte. Nun lief er eine ganze Weile durch die Straßen, ohne an Hunger, Durst und Kälte zu denken. Aber als er an einer Ecke die erleuchteten Fenster eines bescheidenen Gasthauses blinken sah, kam er zu Besinnung und trat ein.
Das Lokal war sehr spärlich besucht. An einem länglichen Tisch saß eine kleine Gesellschaft von älteren Leuten, die laut redeten und sich um den Eintretenden nicht kümmerten. Franz setzte sich an einen großen runden Tisch in die andere Ecke, bestellte sich ein Nachtmahl, aß und trank hastig und mit schmerzlich süßem Behagen. Als er fertig war, schob er den Teller weg und lehnte sich zurück. Er hatte keine Eile. In das schmutzige Quartier, wo er die letzten Nächte verbracht hatte, kam er immer noch früh genüg. Auch war ihm die Aussicht, wieder in den Schnee hinaus zu müssen, immer unangenehmer.
Es schien ihm, als sähen die anderen zu ihm herüber. Unruhig rückte er auf seinem Sessel hin und her. Jetzt, da er in einem warmen Lokal saß, mit gesättigtem Magen wie andere Leute, war ihm beinahe, als wenn er in den letzten Stunden nicht ganz bei Verstande gewesen wäre. Mit Unbehagen dachte er an den Moment, in dem er dem jungen Herrn flehentlich die Hand entgegengestreckt hatte, und noch viel ärgerlicher an den Augenblick, der gleich darauf gefolgt war ... Er hatte nicht übel Lust, wieder zum Sophiensaal zurückzukehren, um dort seinen Wohltäter beim Ausgang abzupassen und ihm zu erklären, daß er keineswegs ein Bettler sei.
Franz zahlte und ging. Auf der Straße schwindelte ihm ein wenig, vor dem trübseligen Gasthof in der Brigittenau graute ihm noch heftiger als früher, und so trat er gleich wieder in ein Kaffeehaus, um noch einen Schnaps zu trinken.
Hier schlug ihm eine schwüle rauchige Luft entgegen; der geräumige, aber niedrige Saal war ziemlich gefüllt, auf den Billardbrettern rollten die Kugeln, lachende laute Stimmen tönten überall. Franz fand ein kleines Tischchen am letzten Fenster frei. Nicht weit von ihm saßen zwei junge Leute im Frack, in Gesellschaft eines hübschen jungen Mädchens mit dunklen unruhigen Augen. Der eine Herr sah einen Moment lang scharf auf Franz hinüber, der zusammenzuckte, denn er hatte schon geglaubt, den Herrn im Pelz zu erkennen. Dann ärgerte er sich aber, daß er so erschrocken war. Gerade als hätte er nicht das Recht, die gleichen Lokale zu besuchen wie jener andere. Der tanzte wohl in diesem Augenblick mit schönen Damen durch den leuchtenden Saal und hatte das stolze Gefühl, einen armen Teufel glücklich gemacht, zu ewigem Dank verpflichtet zu haben. Franz biß sich in die Lippen ... Ja, wenn es zehnmal soviel gewesen wäre – oder hundertmal! ... Ja, dann hätte er ihm wohl die Hand küssen dürfen. Dann hätte er seine Existenz von Grund auf ändern, ein neues Leben beginnen, ein Mensch ... ein Mensch wie andere Menschen werden können! ... Aber dieses eine Goldstück! ... Es war gerade genug, um ihn seine Armut noch bitterer empfinden zu lassen und ihn tiefer zu erniedrigen als je zuvor ... Die Erinnerung trieb ihm die Schamröte in die Wangen ... Er wünschte seinen Wohltäter eintreten zu sehen – er würde aufstehen, sich vor ihn hinpflanzen und ihm den Rest des Geldes vor die Füße schmeißen ...
Franz merkte, daß die Gesellschaft drüben auf ihn aufmerksam wurde. Vielleicht hatte er in der Erregung halblaut gesprochen. Das Mädchen hatte ihm den Rücken zugewandt, ihre Frisur war ein wenig verwirrt, feine lose Haare kräuselten sich ihr im Nacken. Franz dachte an einen Sommerabend daheim: wie er auf der Bank am Mühlenweg saß und wie die Kellnerin von der »Grünen Traube«
Weitere Kostenlose Bücher