Erzaehlungen
finden; wenn es ihm jetzt nicht gelang, so wollte er die Stadt nach allen Ecken und Enden durchstreifen, bis er ihm begegnete. Die Sache war nicht in Ordnung, und sie mußte geregelt werden. Auf den Lippen hatte er ein schmerzlich brennendes Gefühl. Es war ihm jetzt, als wenn er dem Herrn die Hand geküßt hätte, nicht für die zehn Kronen, die er ihm geschenkt, sondern für all das Nichtige und Erbärmliche, auf das das Geld aufgegangen war ... Die Erlebnisse der Nacht wirrten ihm durcheinander. Jetzt erst fiel ihm mit vollkommener Deutlichkeit ein, daß er dem völligen Elend gegenüberstand, daß er wieder einmal nicht wußte, wovon er morgen leben sollte.
Die Straße war verlassen, der kalte Morgenwind wehte über den Schnee. Eine Budike, an der er vorbeiging, wurde eben geöffnet, verschlafen und ungekämmt staubte ein dickes Judenmädel den Schanktisch ab. Franz trat ein, und wie sich selber und der ganzen Welt zum Trotz stürzte er noch ein Glas Branntwein hinunter. Dann eilte er weiter, und in ein paar Minuten war er an seinem Ziel. Nah beim Tor nahm er Aufstellung und wartete. Noch immer klang die Tanzmusik durch die leise klirrenden Fenster. War es wirklich kaum eine Nacht, die seither vergangen war? ...
Leere Wagen fuhren vor. Herren und Damen kamen aus der Halle und stiegen ein, andere eilten zu Fuß davon. Franz wunderte sich selbst über die Sicherheit, mit der er einige Herren passieren ließ, die doch einen ähnlichen Pelz trugen wie sein Wohltäter. Er war entschlossen, nicht vom Platze zu weichen, ehe der letzte Ballgast das Gebäude verlassen hätte. –
Er wartete.
Plötzlich stand ihm das Herz still ... Das war Er ... Da trat er aus dem Tor, knöpfte den Pelz zu und schlug den Kragen hinauf. Es war ein rechtes Glück, daß ihn Franz noch hinter der Glastür erkannt hatte, denn jetzt war er beinahe vermummt. Franz wartete, beide Hände in den Taschen, und der Herr stapfte wieder mit den Füßen durch den Schnee, was Franz erbitterte. Er stellte sich dem Herrn in den Weg. Dieser blickte auf und fragte: »Wie? ...« Dann schien er ihn zu erkennen und lächelte.
»Mein Herr ...«, begann Franz, aber es schnürte ihm die Kehle zusammen, und er konnte nicht weiter. Der hochmütige Blick des andern, der zugleich die Erinnerung an seine außergewöhnliche Freigebigkeit von gestern abend und unbewußte Verachtung für den Bettler ausstrahlte, der da vor ihm stand, erbitterte Franz bis zum Wahnsinn, so daß ihm die Augen zu glühen begannen. Ein unsäglicher Haß grimmte in ihm auf – breit ausholend hob er seine Hand und gab dem Wohltäter eine mächtige Ohrfeige, daß ihm der Zylinder herunterfiel. Der junge Herr riß zuerst vor Entsetzen den Mund weit auf, dann packte er den erhobenen Arm des Bettlers und fing an, nach der Wache zu schreien. Einige Leute, die aus der Halle kamen, blieben stehen, Kutscher liefen herüber, ein Polizeimann war sofort zur Stelle. »Ist der Kerl verrückt?« schrie der Wohltäter, indem er seinen Zylinder aufhob. »Ich habe nämlich zu bemerken«, rief er in größter Erregung, ohne die Kraft, seine bisherige Vornehmheit aufrechtzuerhalten, »daß ich diesem Kerl gestern eine Unsumme – zehn Kronen! – ja, zehn Kronen! ... bitte, Herr Sicherheitswachmann ...«, dabei stülpte er sich den Hut auf den Kopf, » ...nie ist mir etwas Ähnliches vorgekommen!«
Franz ließ den Herrn schreien, befand sich sehr wohl und sprach kein Wort. Die Sache war erledigt. Er hatte seine Dankesschuld abgetragen. Und gleichsam erlöst, mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen, ließ er sich auf die Wache führen.
Arthur Schnitzler
Ein Erfolg
Engelbert Friedmaier, der Sicherheitswachmann Numero siebzehntausendneunhundertzwölf, stand auf Posten zwischen der Kaiser Josef- und Taborstraße und dachte über sein verfehltes Leben nach. Drei Jahre waren verflossen, seit er als Feldwebel seinen Abschied vom Militär genommen und in das Korps der Sicherheitswache eingetreten war, voll der edelsten Begeisterung für seinen neuen Beruf, von glühendem Eifer erfüllt, für die Ordnung und Sicherheit in der Stadt zu sorgen; ein geliebtes Mädchen, die Tochter des Greißlers Anton Wessely, harrte darauf, von ihm als Gattin heimgeführt zu werden; aber Engelberts Aussichten auf Beförderung waren trüb, ja verzweifelt. Denn diese drei Jahre waren vergangen, ohne daß ihm ein einziger Erfolg geblüht hatte. Ein solcher Fall hatte sich nicht ereignet, seit eine Sicherheitswache in Wien bestand.
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