Erzaehlungen
hatte das Unheil sich zugetragen. Wie es ihm manchmal begegnete, war er im Garten, nach dem Mittagessen, über seiner medizinischen Zeitung eingenickt, und als er erwachte, sah er an dem länglichen Schatten der Palme, der indes unter seinen Füßen über die Breite des Kieswegs hingelaufen war, daß er mindestens zwei Stunden geschlummert haben mußte, was ihn verstimmte, weil er mit seinen achtundvierzig Jahren sich versucht fühlte, dies als ein Zeichen abnehmender Jugendfrische zu deuten. Er erhob sich, steckte die Zeitung ein, und, lebhafte Sehnsucht nach den verjüngenden Frühlingsdüften Deutschlands im Herzen, spazierte er langsam dem kleinen Häuschen zu, das er mit seiner um wenige Jahre älteren Schwester bewohnte. An einem der Fenster sah er sie selbst stehen, was ihm auffiel, da um diese schwüle Stunde sonst alle Läden fest geschlossen zu sein pflegten, und, näher herankommend, merkte er, daß Friederike ihm nicht, wie er von weitem zu bemerken geglaubt hatte, zulächelte, sondern daß sie ihm in vollkommen regungsloser Stellung den Rücken zugewandt hielt. In einer gewissen, ihm selbst nicht ganz verständlichen Unruhe eilte er ins Haus und, rasch auf die Schwester zutretend, die noch immer unbeweglich am Fenster zu lehnen schien, merkte er mit Entsetzen, daß ihr Kopf auf die Brust gesunken war, ihre Augen weit offen standen und sich um ihren Hals eine am Fensterkreuz befestigte Schnur schlang. Er rief laut Friederikens Namen, griff aber zugleich nach seinem Taschenmesser und durchschnitt die Schlinge, worauf die Leblose schwer in seine Arme sank. Er rief nach der Dienerin, die aus der Küche kam und durchaus nicht begriff, was geschehen war, bettete mit ihrer Hilfe die Schwester auf den Diwan hin und begann sofort mit allen möglichen Wiederbelebungsversuchen, wie sie ihm von seinem Berufe her wohlvertraut waren. Die Dienerin war indes zu dem Direktor geeilt; doch als dieser eintrat, war Doktor Gräsler eben, die Vergeblichkeit all seiner Bemühungen erkennend, ermattet und fassungslos an der Leiche seiner Schwester in die Knie gesunken.
Im Anfang mühte er sich vergeblich, eine Erklärung für diesen Selbstmord zu finden. Daß das ernste, in Würde alternde Mädchen, mit dem er sich noch während des letzten Mittagsmahls in harmloser Weise über die bevorstehende Abreise unterhalten hatte, mit einem Male verrückt geworden sein sollte, war nicht wahrscheinlich. Näher lag die Annahme, daß Friederike sich schon geraume Zeit, vielleicht jahrelang, mit Selbstmordgedanken getragen und aus irgendeinem Grunde gerade jene ungestörte Nachmittagsstunde für geeignet erachtet hatte, den allmählich gereiften Plan auszuführen. Daß sich unter ihrer gleichmäßig stillen Laune eine linde Schwermut verbergen mochte, war dem Bruder manchmal flüchtig durch den Sinn gegangen, wenn er auch, von Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen, sich nicht weiter darum zu kümmern pflegte. Wirklich heiter, das wurde ihm allerdings erst allmählich bewußt, hatte er sie seit ihrer Kindheit kaum jemals gesehen.
Von ihren Mädchenjahren war ihm wenig bekannt geworden, da er als Schiffsarzt diese Epoche beinahe durchaus auf Reisen verbracht hatte. Als sie endlich vor fünfzehn Jahren, kurz nach des Bruders Austritt aus dem Lloyd, das Vaterhaus in der kleinen Stadt, aus dem die Eltern rasch hintereinander fortgestorben waren, verlassen und sich ihm zugesellt hatte, um ihm als Haushälterin in seine verschiedenen Aufenthaltsorte zu folgen, war sie weit über dreißig Jahre alt gewesen; doch ihre Gestalt hatte so jugendliche Anmut, ihre Augen einen so rätselhaft dunklen Glanz bewahrt, daß es ihr an Huldigungen nicht fehlte und Emil manchmal nicht ohne Grund besorgte, sie könnte ihm von irgendeinem Bewerber in eine späte Ehe entführt werden. Als mit den Jahren auch die letzten Aussichten dieser Art schwanden, schien sie sich wohl ohne Klage in ihr Los zu fügen, doch glaubte sich der Bruder nun manchen stummen Blicks aus ihren Augen zu erinnern, der mit leisem Vorwurf auf ihn gerichtet war, als hätte auch er die Glücklosigkeit ihres Daseins irgendwie mit zu verantworten gehabt. So mochte das Bewußtsein eines verlorenen Lebens mit den Jahren sich immer entschiedener in ihr geltend gemacht haben, je weniger sie sich ausgesprochen, und sie hatte endlich der nagenden Pein einer solchen Erkenntnis ein rasches Ende vorgezogen. Den ahnungslosen Bruder hatte sie hierdurch freilich in die Notwendigkeit versetzt, sich in
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