Erzaehlungen
Stiegengeländer und schien ganz vernichtet. »Das ist noch weit schrecklicher als Sie denken, Herr Doktor!« sagte sie, den Kopf schüttelnd. – »Noch schrecklicher?« fragte ich. – »Ja, Herr Doktor! – Wenn Sie wüßten, wie sie ihn geliebt hat!« – »Sie hat ihn geliebt?« – »Ja, sie hat ihn verwöhnt, verzärtelt.« – »Diesen Burschen!? Und warum?« – »Ja, warum! ... Sehen Sie, Herr Doktor, der Junge war ungeraten von Kindesbeinen auf. Aber alles ließ sie ihm hingehen ... die schlimmsten Streiche verzieh sie ihm ... Wir im Hause mußten sie oft warnen, der Tunichtgut betrank sich schon als Knabe, und erst als er älter wurde ... diese Geschichten!« – »Was für Geschichten?« – »Für kurze Zeit war er in einem Geschäft, aber er mußte wieder weg!« – »Er mußte?« – »Ja, er stellte alles mögliche an; er bestahl sogar seinen Dienstherrn ... Die Mutter ersetzte das Geld, die arme Frau, die kaum selbst zu leben hatte!« –
»Was ist sie den eigentlich?«
»Sie nähte und stickte; es war ein recht karges Auskommen. Und der Junge, statt sie zu unterstützen, trug ihr das bißchen, was sie verdiente, ins Wirtshaus und weiß Gott wohin. Damit war's aber nicht genug. Das Eßzeug, zwei, drei Bilder, die Wanduhr, fast alles, was nicht angenagelt war, wanderte ins Leihhaus ...!« –
»Und sie hat es geduldet?« –
»Geduldet?! – Sie liebte ihn immer mehr! Wir alle haben es nicht begriffen ... Und nun wollte er Geld ... Sie gab ihm, was sie hatte ... Er drohte ihr, er mußte Geld haben!«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Man erfährt das so im Hause. Sein Schreien hörte man oft durchs Stiegenhaus, und wenn er in der Nacht oder auch bei Tag betrunken nach Hause kam, fing er schon bei der Türe an zu brummen und zu schelten. Die arme Frau hatte Schulden überall: es gab manchmal kein Brot da oben ... Wir im Hause halfen ihr manchmal aus, obwohl es unter uns keine Reichen gibt. Aber es wurde nur ärger. Sie schien ganz verblendet zu sein. Alles hielt sie für Jugendstreiche; sie bat uns manchmal um Entschuldigung, wenn der Bursch in der Nacht über die Stiege torkelte und Lärm machte. Ja, so ein Sohn war das, Herr Doktor. – Aber daß es so weit gekommen ist ...« Und nun erzählte sie mir die ganze Geschichte: »Er kam heute erst früh am Morgen heim; ich hörte ihn hier vor unserer Wohnung über die Stufen stolpern. Dabei sang er etwas mit seiner heiseren Stimme. Nun, und oben wird er wieder Geld verlangt haben. Die Türe hat er offen gelassen – bis zu uns herab ... denken Sie, vom vierten bis in den zweiten Stock – hörte man sein Toben. Und dann plötzlich ein Schrei. Noch ein Schrei. Da stürzten die Leute hinauf, und da sah man's. Er aber soll ganz verstockt dagestanden sein und die Achseln gezuckt haben ...!« – Ich ging. Hinter mir hörte ich schwere Schritte. Man führte den Muttermörder davon. In den Gängen standen Männer, Weiber und Kinder, sie starrten nach; keiner sprach ein Wort. Ich hatte mich im Flur umgewandt, stieg die Treppe hinab, schritt aus dem Hause und ging in einer sehr trüben Stimmung daran, mein übriges Tagewerk zu vollbringen. Kurz nach Mittag kehrte ich in das Unglückshaus zurück; ich fand die Verletzte, wie ich sie verlassen, bewußtlos, ziemlich schwer atmend. Die Wartefrau erzählte mir, daß unterdessen die Gerichtskommission dagewesen und den Tatbestand aufgenommen habe. Es war so dunkel in dem Zimmer, daß ich eine Kerze anzünden und auf das Nachttischchen am Kopfende des Bettes stellen ließ ... Welch ein unendliches Leiden lag auf diesem sterbenden Antlitz. Ich richtete eine Frage an die Kranke. Sie wurde unruhig, stöhnte und öffnete die Augen ein wenig. Zu sprechen vermochte sie nicht. Nachdem ich das Nötige verordnet, entfernte ich mich ... Abends, als ich hinaufkam, schien sich die arme Frau etwas wohler zu befinden. Sie antwortete auf meine Frage, wie es ihr gehe: »Besser ...« und versuchte zu lächeln. Gleich aber versank sie wieder in die frühere Bewußtlosigkeit ...
Sechs Uhr morgens! –
Nach Mitternacht – eben als ich die letzte Zeile in mein Tagebuch eingetragen – wurde heftig geklingelt ... Frau Martha Eberlein – dies war der Name der Schwerverletzten – verlangte nach mir. Irgendein Junge aus dem Hause war hergeschickt worden; ich sollte gleich zu ihr, gleich, gleich ... Ob sie im Fieber liege, ob es zu Ende gehe ...? Er wußte nichts; jedenfalls sei es höchst dringend.
Ich folgte dem Jungen auf dem
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