Erzaehlungen
Fuße, und mit meiner chirurgischen Handtasche versehen, eilte ich die Treppe des Hauses hinauf, während der Junge unten stehenblieb, ein Wachsstöckchen in der Hand haltend, um mir zu leuchten. Die letzt Stufen lagen schon tief im Dunkel, nur am Anfang des Weges geleitete mich ein matter, flackernder Schein. Doch aus der halboffenen Wohnungstür der Kranken fiel mir ein Lichtstreif entgegen. Ich trat ein und durch den Vorraum, der auch die Küche vorstellte, in das Hofzimmer. Die Wartefrau war aufgestanden, als sie meine Schritte hörte, und kam mir entgegen. »Was gibt's?« flüsterte ich ... »Sie will Sie durchaus sprechen, Herr Doktor!« sagte das Weib.
Ich stand schon beim Bette; die Kranke lag regungslos da; ihre Augen waren weit geöffnet; sie sah mich an. Leise sagte sie: »Danke, Herr Doktor – danke!« – Ich ergriff ihre Hand; der Puls war nicht gerade schlecht. Ich schlug den fröhlichen Ton an, den wir ja immer in der Kehle haben müssen, auch wenn es uns nicht danach zumute ist. »Also, besser geht es, wie ich sehe, Frau Eberlein, das ist sehr erfreulich!«
Sie lächelte. »Ja, besser – und ich habe mit Ihnen zu sprechen ...«
»So?« fragte ich – »lassen Sie hören!«
»Mit Ihnen allein!« –
»Ruhen Sie eine Weile aus!« wandte ich mich an die Wartefrau.
»Draußen!« sagte die Kranke.
Die Wartefrau sah mich noch einmal fragend an, worauf sie ging, die Türe leise hinter sich schließend. Ich war allein mit der Kranken.
»Bitte!« sagte diese, mit den Augen auf einen Stuhl weisend, der am Fußende des Bettes stand. Ich ließ mich nieder, ihre Hand in der meinen behaltend, und rückte näher, um sie besser verstehen zu können.
Sie sprach ziemlich leise. »Ich war so frei, Herr Doktor«, begann sie – »denn es ist sehr notwendig, daß ich Sie spreche!«
»Was wünschen Sie, meine Liebe?« frug ich ... »Strengen Sie sich nur nicht allzusehr an!«
»O nein ... es sind nur ein paar Worte ... Sie müssen ihn befreien, Herr Doktor!«
»Wen?«
»Meinen Sohn – ihn!«
»Meine liebe Frau Eberlein«, erwiderte ich bewegt ... »Sie wissen wohl, das steht nicht in meiner Macht!«
»Oh, es steht in Ihrer Macht, wenn es eine Gerechtigkeit gibt ...«
»Ich bitte Sie recht sehr ... versuchen Sie sich nicht aufzuregen ... Ich fühle wohl, daß Sie mich für Ihren Freund halten, und ich danke Ihnen dafür; ich bin aber auch Ihr Arzt und darf Ihnen ein bißchen befehlen. Nicht? – Also Ruhe! Vor allem Ruhe!«
»Ruhe ...« wiederholte sie, und schmerzlich zuckte es ihr um Augen und Mund ... »Herr Doktor – Sie müssen mich anhören ... es lastet so schwer auf mir!«
Auf meinem schweigenden Antlitz glaubte sie eine Aufforderung zum Sprechen zu lesen, und meine Hand fest drückend, begann sie:
»Er ist unschuldig – oder doch weniger schuldig, als es die Leute ahnen können. Ich bin eine schlechte, eine elende Mutter gewesen ...«
»Sie?«
»Ja, ich ... eine Verbrecherin war ich!«
»Frau Eberlein!«
»Gleich werden Sie mich verstehen ... Ich bin nicht Frau Eberlein ... ich bin Fräulein Martha Eberlein ... Man hält mich nur für eine Witwe ... Ich habe nichts dazu getan, um die Leute zu täuschen, aber ich konnte diese alten Geschichten doch nicht jedermann erzählen ...«
»Nun ja, das darf Sie doch heute nicht mehr so entsetzlich quälen!«
»Oh, nicht das! Es sind zwanzig Jahre, daß ich verlassen wurde ... verlassen, noch bevor er zur Welt kam, er, mein und sein Sohn. Und da ... es ist nur der reine Zufall, daß er lebt, denn, Herr Doktor ... ich hab' ihn umbringen wollen in der ersten Nacht! ... Ja, schaun Sie mich nur so an! ... Allein und verzweifelt stand ich da ... Aber ich will mich nicht reinwaschen ... Ich nahm Decken und Linnenzeug und legte es über ihn und dachte, er werde ersticken ... Dann in der Früh' nahm ich furchtsam die Decken wieder weg ... und er wimmerte! Ja, er wimmerte – und atmete – und lebte!« Sie weinte, die arme Frau. Mir selber versagten die Worte. Sie aber fuhr nach einem kurzen Schweigen fort:
»... Und er sah mich an mit großen Augen und wimmerte in einem fort! Und ich, vor diesem kleinen Ding, das noch keinen Tag alt war, mußte ich erbeben ... Ich weiß noch genau, daß ich es vielleicht eine Stunde lang anstarrte und dachte: Welch ein Vorwurf liegt in diesen Augen! Und vielleicht hat es dich verstanden und klagt dich an! Und vielleicht hat es ein Gedächtnis und wird dich immer, immer anklagen ... Und es wurde größer, das kleine
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