Erzaehlungen
stattgehabten Untersuchung und von deren günstigem Ausgang zu unterrichten, schon um die besorgten Mienen, die ihm widerwärtig seien, nicht mehr sehen und das langweilige Gerede, das ihn zur Verzweiflung bringe, nicht mehr hören zu müssen. Als der Arzt daraufhin die freilich übertriebene, aber dabei doch rührende Besorgnis der Kinder zu rühmen sich anschickte, stimmte der Vater leicht zu und erklärte, an ihnen überhaupt nichts anderes aussetzen zu wollen, als daß sie eben gar so gute und brave Menschen seien. »Darum,« setzte er hinzu, »werden sie beide nicht viel vom Leben haben; wahrscheinlich werden sie es nicht einmal kennenlernen.« Und in seinem Auge schimmerte eine blasse Erinnerung von fernen und verruchten Abenteuern. Sie hatten nur eine kurze Weile auf der Bank vor der Eingangstür gesessen, als die übrigen Mitglieder der Familie Schleheim herankamen, alle etwas sonntagsmäßig angetan und gerade dadurch kleinbürgerlicher aussehend als sonst. Sabine, die sich dessen bewußt zu sein schien, nahm gleich den bewimpelten Hut ab und strich sich dann wie beruhigt über ihre schlichte Frisur. Der Doktor wurde über Mittag hiergehalten; das Gespräch bei Tische hielt sich durchaus an der Oberfläche der Dinge, und als die Rede darauf kam, daß der Leiter einer dem Badestädtchen ganz nahe gelegenen Heilanstalt sich mit Rücktrittsabsichten trage, fragte die Mutter den Gast beiläufig, ob ihn denn eine solche Stellung nicht lockte, wo ihm vielleicht Gelegenheit geboten würde, seine berühmten Hungerkuren systematisch anzuwenden. Nachdem Gräsler den Scherz lächelnd abgewehrt hatte, bemerkte er, daß er sich zu einer Stellung solcher Art bisher niemals habe entschließen können. »Ich kann auf das Bewußtsein meiner Freiheit nicht verzichten,« sagte er, »und wenn ich auch schon ein halbes dutzendmal hintereinander da unten im Ort praktiziert habe und aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren wiederkommen werde, jeder Zwang würde mir die Freude an dieser Gegend, ja an meinem Berufe überhaupt erheblich stören.«
Sabine schien durch ein kaum merkliches Neigen des Kopfes ihr Verständnis für diese Auffassung ausdrücken zu wollen. Im übrigen zeigte sie sich über die Verhältnisse der Heilanstalt gut unterrichtet und erklärte sie insbesondere für viel ertragsfähiger, als sie sich unter dem derzeitigen, alten und nachlässig gewordenen Direktor in der letzten Zeit erwiesen hätte. Auch sprach sie die Meinung aus, daß für jeden Arzt die Wirksamkeit an einer Heilanstalt schon darum sehr wünschenswert sein müßte, weil nur da die Bedingungen zu einer wirklich dauernden Beziehung zwischen Arzt und Kranken und damit auch die Gelegenheit zur Anwendung von verläßlichen, weil stets kontrollierbaren Heilmethoden gegeben seien.
»Das hat freilich viel für sich«, meinte Doktor Gräsler mit jener Zurückhaltung im Ton, die er als Fachmann in diesem Kreise für angemessen hielt. Dies entging Sabine nicht, und sie bemerkte rasch und leicht errötend: »Ich habe nämlich eine Zeitlang in Berlin Krankenpflege getrieben.«
»Wahrhaftig!« rief der Doktor aus und wußte nicht gleich, wie er sich dieser Eröffnung gegenüber verhalten sollte. Und er bemerkte allgemein: »Ein schöner, ein edler Beruf. Aber düster und schwer! Und ich begreife wohl, daß es Sie bald wieder nach Hause in die heimatliche Waldesluft gezogen hat!«
Sabine schwieg, auch die anderen blieben stumm. Doktor Gräsler aber ahnte, daß man nun hart an der Stelle vorgekommen war, wo das bescheidene Rätsel von Sabinens Dasein verborgen liegen mochte.
Nach dem Essen bestand Karl auf einer Dominopartie im Garten wie auf seinem verbrieften Recht. Der Doktor wurde aufgefordert, mitzutun; und bald, während die Mutter, auf einem bequemen Sessel unter den Tannen hingestreckt, über der mitgenommenen Handarbeit allmählich einschlummerte, war das Spiel harmlos klappernd im Gange. Doktor Gräsler erinnerte sich gewisser trübseliger Sonntagnachmittagsstunden aus den vergangenen Jahren an seiner schwermütigen Schwester Seite; er schien sich einer düstern, lastenden Epoche seines Lebens wundersam entronnen; und wenn Sabine, seine Zerstreutheit gewahrend, ihn durch einen lächelnden Blick oder gar durch eine leichte Berührung seines Armes ermahnte, die Steine weiter anzusetzen, so fühlte er von solcher Vertraulichkeit sich zu einer unbestimmten milden Hoffnung angerührt.
Das Spiel wurde abgeräumt, ein geblümtes Tuch über
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