Erzaehlungen
der Kurverwaltung engagiert, eigentlich sei es ein Schauspieler aus Berlin, der in den Ferienmonaten gegen freie Station hier immer den Kranken zu spielen habe. Ebenso wie die elegante Dame mit den siebzehn Hüten keineswegs eine Amerikanerin sei oder gar eine Australierin, wie die Fremdenliste behauptete, sondern so gut eine Europäerin wie sie alle, und daher gestern abend mit dem Offizier in Zivil, der zu ihrem Besuch aus Eisenach hier eingetroffen, auf der Bank im Kurgarten keineswegs englisch, sondern ein ganz unzweifelhaftes Wienerisch gesprochen habe. Der Doktor gab die eine Amerikanerin preis, die ohnedies in der Behandlung eines Kollegen stand, hatte aber dafür mit einem französischen Ehepaar aufzuwarten, das schon die ganze Welt bereist hatte und es nirgends schöner fände als gerade hier. Nun begann die ältere Schwester ernsthaft die schöne Wald- und Hügellandschaft zu preisen und die freundliche Behaglichkeit ihres Städtchens, das sich erst dann in seiner ganzen Anmut entfalte, wenn die Fremden über alle Berge wären. Und Frau Schleheim, sich an den Doktor wendend, bekräftigte: »Sie sollten wirklich einmal einen Winter hier verbringen, da wüßten Sie erst, wie schön es hier sein kann.« Doktor Gräsler erwiderte nichts; doch alle konnten merken, daß in seinen Augen sich Fernen spiegelten, die den übrigen sich bisher noch nicht aufgetan hatten und kaum jemals auftun würden.
Als man sich eine Weile später zu einem Spaziergang bereit machte, erklärte der Hausherr, lieber daheim zu bleiben und in einer Geschichte der französischen Revolution weiterzulesen, für welche Epoche er sich ganz besonders zu interessieren behauptete. Anfangs hielt sich die kleine Gesellschaft eng zusammen, später aber, wie mit Absicht, ließ man Gräsler mit Sabine vorangehen, und heute fühlte er sich ihr gegenüber sicherer, überlegener und vertrauter als je vorher. Es erschien ihm nicht unmöglich, daß Sabine mit jenem jungen Arzte, der ihr Bräutigam gewesen und gestorben war, in innigeren Beziehungen gestanden hatte, als Vater und Mutter ahnen mochten. In diesem Falle durfte sie als junge Witwe gelten, was den Altersunterschied zwischen ihm und ihr immerhin ein wenig ausglich.
Man beschloß den freundlichen Tag bei den Klängen des Badeorchesters auf der großen Terrasse des Kurhauses mit einem gemeinsamen Abendessen, zu dem sich auch Herr Schleheim einfand, so elegant, ja geckenhaft gekleidet, daß sich der Doktor ihn nicht recht aus den Unbilden der französischen Revolution emportauchend vorstellen konnte. Die Freundinnen Sabinens gaben ihrer Bewunderung zwar scherzhaften, aber unverhohlenen Ausdruck, während Sabine selbst, wenn der Doktor ihren Blick richtig deutete, mit dem Aufzug ihres Vaters nicht völlig einverstanden schien. Im übrigen war die Laune allerseits die beste, und das kleine Fräulein ließ es an spaßig-boshaften Bemerkungen über die anderen Gäste nicht fehlen. So hatte sie bald die Dame mit den siebzehn Hüten entdeckt, die in Gesellschaft von drei jungen und einem älteren Herrn an einem Nebentisch saß und zu einem Wiener Walzer in einer in Australien sicher nicht üblichen Weise den Kopf hin und her wiegte. Als Doktor Gräsler in irgendeinem Augenblick fühlte, wie ganz flüchtig ein Fuß den seinen berührte, erschrak er beinahe. Sabine? Nein, die war es gewiß nicht. Auch hätte er das selbst nicht gewünscht; eher war es wohl das lustige kleine Fräulein, das ihm gegenüber saß und ein so besonders unschuldiges Gesicht machte. Da die sanfte Berührung sofort wieder aufhörte, konnte sie freilich auch zufällig gewesen sein, und in Doktor Gräslers Natur lag es sowohl, daß er sich dieser Annahme zuneigte, als auch, daß er sich darum keineswegs befriedigter fühlte. Allzu große Bescheidenheit, ja eine gewisse Selbstunterschätzung, die war zeitlebens sein schlimmster Fehler gewesen; sonst säße er wohl heute nicht als Badearzt in diesem lächerlichen kleinen Kurstädtchen, sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sanitätsrat. Und trotzdem Sabine manchmal mit offenbarer Freundlichkeit die Augen auf ihn gerichtet hielt, ihm sogar einmal lächelnd zutrank, so spürte er auch diesmal wieder, daß er selbst mit jedem Tropfen immer nur melancholischer wurde. Seine sinkende Laune schien sich dem ganzen Kreise allmählich mitzuteilen; die älteren Damen wurden sichtlich müde, das Gespräch der jüngeren stockte; der Sänger, düster um sich blickend, rauchte stumm eine
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