Erzaehlungen
zwiespältig überrascht: daß er nämlich seinem Gedächtnis, wenn es da oder dort versagen wollte, durch freie Erfindung nachzuhelfen imstande war. Doch nahm er dies um so weniger schwer, als er auf solche Art das lange nicht mehr genossene Vergnügen kosten durfte, eine gute Weile die Hauptperson eines wohlgeneigten Kreises zu bedeuten und es ihm vorbehalten war, in die verträumte Waldhausstille den verführerischen Nachhall eines für ihn selbst beinahe verklungenen Lebens zu bringen.
Ein nächstes Mal, während Sabine und ihre Mutter, was selten genug geschah, im Garten Besuch empfingen, saß er auf der Veranda allein mit dem alten Sänger, der heute lebhafter als je von seinem früheren Wirken an Stadttheatern und kleineren Hofbühnen erzählte, immer in einem Ton, als wäre es ein besonders reiches und stolzes Leben, dem er nun nachzuklagen hätte. Obzwar ihm nach dem allzufrühen Verlust der Stimme durch Vermittelung seines wohlhabenden Schwiegervaters, eines Weinhändlers aus den Rheinlanden, der Übergang in einen bürgerlichen Beruf offen gestanden wäre, hatte er sich doch für die Flucht in die Natur und in die Einsamkeit entschieden, wo er nicht unaufhörlich wie im städtischen Leben daran gemahnt werden konnte, was ihm verloren, und sich ungestörter an dem freuen durfte, was ihm geblieben war: am Glück der Häuslichkeit – was er nicht ohne Ironie aussprach – und an der Vortrefflichkeit seiner Kinder, welche Eigenschaft er wieder fast bedauernd festzustellen schien. »Ja, wenn Sabine,« bemerkte er dunkel, »mit meiner Begabung auch mein Temperament geerbt hätte, welch eine Zukunft wäre ihr erblüht!« Und er erzählte, daß sie in Berlin, wo sie bei Verwandten seiner Frau ein seines Erachtens allzu bürgerliches Heim gefunden, eine Zeitlang Gesangs-und Bühnenstudien getrieben, diese aber aus einer unüberwindlichen Abneigung gegen den freien Ton ihrer jungen Kollegen und Kolleginnen wieder aufgegeben hätte. »Fräulein Sabine,« bemerkte darauf Gräsler – und nickte zustimmend – »hat eine wahrhaft reine Seele.«
»Ja, die hat sie wohl! Aber was will das besagen, mein bester Herr Doktor, gegenüber dem ungeheueren Gewinn, das Leben kennenzulernen in all seinen Höhen und Tiefen! Ist das nicht besser, als seine Seele rein zu bewahren?« Er blickte ins Weite; dann in verdrossenem Tone fuhr er fort: »So hat sie denn eines Tages all ihre oder vielmehr meine Pläne von Kunst und Ruhm fahren lassen und – wohl mit bewußter Betonung des Gegensatzes – sich in einen Kursus über Krankenpflege einschreiben lassen, für welchen Beruf sie plötzlich besondere Eignung in sich zu entdecken glaubte.«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Es scheint aber, daß auch dieser Beruf Fräulein Sabine keine völlige Befriedigung verschafft hat; da sie ihn nach wenigen Jahren aufgab, wenn ich neulich recht verstanden habe?«
»Damit hat es eine eigene Bewandtnis«, erwiderte Schleheim. »Als Pflegerin lernte sie einen jungen Arzt kennen, mit dem sie sich verlobte. Ein sehr tüchtiger junger Arzt, wie behauptet wurde, der zu den größten Hoffnungen berechtigte. Ich selbst hatte nicht mehr Gelegenheit, ihn kennenzulernen ...« Er endete leise und rasch, da Karl eben vorbeigelaufen kam. »Der junge Mensch ist leider gestorben.«
»Gestorben«, wiederholte Gräsler vor sich hin und ohne tiefere Anteilnahme.
Karl hatte zu melden, daß unter den Tannen der Kaffee bereitstände. Die Herren begaben sich in den Garten, und der Doktor wurde den Besucherinnen vorgestellt, einer Witwe mit ihren zwei Töchtern, die, beide etwas jünger als Sabine, ihm vom Angesichte wohlbekannt waren, gleich wie er ihnen, so daß bei Kaffee und Kuchen bald eine unbefangen heitere Unterhaltung in Gang kam. Die beiden Fräulein hatten Gelegenheit, den Herrn Doktor an jedem Nachmittag um dreiviertel drei von ihrem Fenster aus, wo sie zu dieser Zeit natürlich immer mit Näharbeiten beschäftigt wären, aus dem Gasthof treten zu sehen, wobei er, wie sie behaupteten, ganz regelmäßig seine Taschenuhr heraus zu nehmen, ans Ohr zu halten, den Kopf zu schütteln und mit höchster Eile den Weg nach seiner Wohnung einzuschlagen pflegte. Was denn der Herr Doktor daheim so Wichtiges zu tun hätte? fragte die Jüngere mit lustigen Augen. Ordination halten? Das sei doch wohl ein Spaß! Kranke kämen bekanntlich nie in diesen sogenannten Kurort. Der interessante junge Mann, der immer im Rollstuhl zur Trinkhalle hin gefahren werde, der sei von
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