Erzaehlungen
fuhr er fort, »stelle dir beispielsweise vor, es sagte dir einer: Hochgeehrtes Fräulein, Sie werden am 1. Mai 1970 sterben. So wirst du dein ganzes künftiges Leben in einer namenlosen Angst vor dem 1. Mai 1970 verbringen, obwohl du heute gewiß nicht ernstlich glaubst, hundert Jahre alt zu werden.«
Sie antwortete nichts.
Er sprach weiter, indem er auf den See hinausblickte, auf dem es eben von den durchbrechenden Sonnenstrahlen zu glitzern begann.
»Andere wieder gehen heute stolz und gesund herum, und irgend ein blödsinniger Zufall rafft sie in ein paar Wochen dahin. Die denken gar nicht ans Sterben, nicht wahr?«
»Schau«, sagte Marie, »laß doch die dummen Gedanken. Du mußt dir doch heut schon selber darüber klar sein, daß du wieder gesund wirst.«
Er lächelte.
»Nun ja, gerade du gehörst zu denen, die gesund werden.«
Er lachte laut auf. »Gutes Kind, du meinst in der Tat, daß ich dem Schicksal aufsitze? Du meinst, mich betrügt dieses scheinbare Wohlsein, mit dem mich die Natur jetzt beglückt? Ich weiß nur zufällig, woran ich bin, und der Gedanke an den nahen Tod macht mich, wie andere große Männer auch, zum Philosophen.«
»Jetzt hör schon einmal auf! Ja?«
»Ooh, mein Fräulein, ich soll sterben, und Sie sollen nicht einmal die kleine Unannehmlichkeit haben, mich davon reden zu hören?«
Sie warf ihre Arbeit weg und trat zu ihm hin. »Ich fühle es ja«, sagte sie mit dem Tone ehrlicher Überzeugung, »daß du mir bleibst. Du kannst es ja selber gar nicht beurteilen, wie du dich erholst. Du mußt jetzt nur nicht mehr daran denken, dann ist jeder böse Schatten aus unserem Leben weg.«
Er betrachtete sie lange. »Du scheinst es wirklich absolut nicht begreifen zu können. Man muß es dir augenfällig machen. Sieh einmal her.« Er nahm eine Zeitung zur Hand. »Was steht hier?«
»12. Juni 1890.«
»Ja, 1890. Und jetzt denke dir, es steht da statt der Null eine Eins. Da ist schon alles längst vorbei. Ja, verstehst du's jetzt?«
Sie nahm ihm die Zeitung aus der Hand und warf sie ärgerlich zu Boden.
»Die kann nichts dafür«, sagte er ruhig. Und plötzlich, indem er sich lebhaft erhob und alle diese Gedanken mit einem raschen Entschluß weit von sich abzuweisen schien, rief er aus: »Schau einmal, wie schön! Wie die Sonne über dem Wasser liegt – und dort« – er beugte sich zur Seite der Terrasse hinaus und schaute nach der entgegengesetzten Seite hin, wo das flache Land lag – »wie die Felder sich bewegen! Ich möchte ein wenig da hinaus.«
»Wird's nicht zu feucht sein?«
»Komm, ich muß ins Freie.«
Sie wagte nicht recht, ihm zu widersprechen.
Beide nahmen ihre Hüte, warfen ihre Mäntel um und schlugen den Weg ein, der den Feldern zu führte. Der Himmel war beinahe völlig klar geworden. Über den fernen Gebirgszug zogen vielgestaltige weiße Nebel. Es war, als verlöre sich das Grün der Wiesen in dem goldenen Weiß, das die Gegend abzuschließen schien. Bald waren sie auf dem Weg mitten unter das Korn gekommen, und da mußten sie eines hinter dem anderen gehen, während die Halme unter den Säumen ihrer Mäntel raschelten. Bald bogen sie seitab in einen nicht allzu dichten Laubwald, in welchem es wohlgepflegte Wege gab mit Ruhebänken in kurzen Abständen. Hier gingen sie Arm in Arm.
»Ist's da nicht schön?« rief Felix aus. »Und dieser Duft!«
»Glaubst du nicht, daß jetzt nach dem Regen –« fiel Marie ein, ohne den Satz zu vollenden.
Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung. »Laß das, kommt es denn darauf an? Es ist unangenehm, immer daran gemahnt zu werden.«
Wie sie nun weiterschritten, lichtete sich der Wald mehr und mehr. Durch das Gelaub schimmerte der See. Kaum hundert Schritte noch hatten sie bis dahin. Eine ziemlich schmale Landzunge, auf welcher der Wald in ein paar spärlichen Sträuchern seinen Abschluß fand, ragte ins Wasser vor. Hier standen einige Tannenholzbänke mit Tischen davor, und hart am Ufer zog sich ein hölzerner Zaun hin. Ein leichter Abendwind hatte sich erhoben und trieb die Wellen ans Ufer. Und nun strich der Wind weiter ins Gesträuch, über die Bäume, so daß es von den feuchten Blättern wieder zu tropfen begann. Über dem Wasser lag der müde Schein des scheidenden Tages.
»Ich habe nie geahnt«, sagte Felix, »wie schön das alles ist.«
»Ja, es ist reizend.«
»Du weißt es ja nicht«, rief Felix aus. »Du kannst es ja nicht wissen, du mußt ja nicht Abschied davon nehmen.« Und er machte langsam ein paar
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