Erzaehlungen
ihm bleiben werde, überall, und wie sie zusammen ruhen wollten, das ging ihm wie im Traume durch den Kopf. »Bald, bald«, dachte er. Und eigentlich war es ihm nie so fern erschienen.
Und so, wie er sich's in der Frühe vorgestellt hatte, lag Felix nachmittags im Kupee des Zuges, bequem der Länge nach ausgestreckt, den Kopf an Mariens Brust, den Plaid über sich gebreitet. Er starrte durch die geschlossenen Fensterscheiben in den grauen Tag hinaus, er sah den Regen herunterrieseln und tauchte mit seinem Blick in den Nebel unter, aus dem zuweilen nahe Hügel und Häuser hervorkamen. Telegraphenstangen schossen vorbei, die Drähte tanzten auf und nieder, ab und zu hielt der Zug auf einer Station, aber in seiner Lage konnte Felix die Leute nicht sehen, die auf dem Perron sein mochten. Er hörte nur gedämpft die Tritte, die Stimmen, dann Glockengeläute und Trompetensignale. Anfangs ließ er sich von Marie die Zeitung vorlesen, aber sie mußte ihre Stimme zu sehr anstrengen, und bald gaben sie's auf. Beide waren froh, daß es nach Hause ging.
Es dämmerte, und der Regen rieselte. Felix hatte das Bedürfnis, sich vollkommen klar zu werden; aber seine Gedanken wollten keine scharfen Umrisse gewinnen. Er überlegte. Also hier liegt ein schwerkranker Mensch ... Der war jetzt im Gebirge, weil dort die schwerkranken Menschen im Sommer hingehen ... Und da ist seine Geliebte, und die hat ihn treu gepflegt, und nun ist sie müde davon ... So blaß ist sie, oder macht das nur das Licht? ... Ach ja, die Lampe brennt ja schon da oben. Aber draußen ist's noch nicht ganz dunkel ... Und nun kommt der Herbst ... Der Herbst ist so traurig und still ... Heute abend werden wir wieder in unserem Wiener Zimmer sein ... Da wird es mir vorkommen, als wäre ich nie weggewesen ... Ach, es ist gut, daß Marie schläft, ich möchte sie jetzt nicht reden hören ... Ob wohl auch Leute vom Sängerfest im Zuge sind? ... Ich bin nur müde, ich bin gar nicht krank. Es sind viel Kränkere im Zuge als ich ... Ach, tut die Einsamkeit wohl ... Wie ist nur heut der ganze Tag vergangen? War denn das wirklich heute, daß ich in Salzburg auf dem Divan lag? Das ist so lange her ... Ja, Zeit und Raum, was wissen wir davon! ... Das Rätsel der Welt, – wenn wir sterben, lösen wir es vielleicht ... Und nun klang ihm eine Melodie ins Ohr. Er wußte, daß es nur das Geräusch des fahrenden Zuges war ... Und doch war es eine Melodie ... Ein Volkslied ... ein russisches ... eintönig ... sehr schön ...
»Felix, Felix!«
»Was ist nur das?« Marie stand vor ihm und streichelte seine Wangen.
»Gut geschlafen, Felix?«
»Was gibt es denn?«
»In einer Viertelstunde sind wir in Wien.«
»Ach, nicht möglich!«
»Das war ein gesunder Schlaf. Der wird dir sehr gut getan haben.«
Sie ordnete das Gepäck, der Zug sauste durch die Nacht weiter. Von Minute zu Minute ertönte helles, gedehntes Pfeifen, und durch die Scheiben blitzte von draußen rasch wieder verglimmender Lichtschein. Man fuhr durch die Stationen in der Nähe Wiens.
Felix setzte sich auf. »Ich bin ganz matt von dem langen Liegen«, sagte er. Er setzte sich in die Ecke und schaute zum Fenster hinaus. Da konnte er schon von ferne die schimmernden Straßen der Stadt erblicken. Der Zug fuhr langsamer. Marie öffnete das Kupeefenster und beugte sich hinaus. Man fuhr in die Halle ein. Marie winkte mit der Hand hinaus. Dann wandte sie sich zu Felix und rief: »Da ist er, da ist er.«
»Wer?«
»Alfred!«
»Alfred?«
Sie winkte immer wieder mit der Hand. Felix war aufgestanden und sah ihr über die Schultern. Alfred näherte sich rasch dem Kupee und reichte Marie die Hand hinauf. »Grüß' euch Gott! Felix, Servus.«
»Wie kommst du denn her?«
»Ich hab' ihm telegraphiert«, sagte Marie rasch, »daß wir ankommen.«
»Bist mir überhaupt ein netter Freund«, sagte Alfred, »das Briefschreiben ist für dich wohl eine unbekannte Erfindung. Aber jetzt komm'!«
»Ich hab' so viel geschlafen«, sagte Felix, »daß ich noch ganz duselig bin.« Er lächelte, wie er die Stufen des Waggons hinunterging und ein wenig wankte.
Alfred nahm seinen Arm, und Marie, als wollte sie sich einhängen, nahm rasch seinen anderen.
»Ihr werdet wohl beide recht müde sein, wie?«
»Ich bin ganz kaputt«, sagte Marie. »Nicht wahr, Felix, man ist ganz gerädert von der dummen Eisenbahnfahrt?«
Sie stiegen langsam die Treppen hinunter. Marie suchte den Blick Alfreds, er vermied den ihren. Unten winkte er einen
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