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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Aussehen eines alten Bauwerks hatte, setzte mich die große Anzahl von Schülern, die sich zum Sonntagsspaziergang aufgemacht hatten, in höchstes Erstaunen, das ich meinem Gesprächspartner gegenüber nicht verhehlen konnte.
    »Ja, viertausend sind das!«, antwortete mir der Doktor. »Ein ganzes Regiment.«
    »Viertausend!«, rief ich aus. »Was für Vokabel-und Grammatikverballhornungen da wohl verbrochen werden in so einem Regiment!«
    »Aber mein lieber Klient, so erinnern Sie sich doch bitte. Seit mindestens hundert Jahren wird an den Gymnasien weder Latein noch Griechisch gelehrt. Die Ausbildung ist rein auf Naturwissenschaften, Handel und Industrie ausgerichtet!« 27
    »Wirklich?«
    »Ja, wissen Sie denn nicht mehr, was jenem unseligen Schüler passiert ist, der das Pech hatte, als letzter einen Preis für lateinische Verse zu bekommen?«
    »Nein«, antwortete ich mit fester Stimme, »nein, das weiß ich nicht!«
    »Nun, als er die Festbühne hochgestiegen war, hat man ihm Wörterbücher an den Kopf geworfen und in seiner Verwirrung hat ihn der Herr Präfekt bei der Umarmung fast gebissen!«
    »Und seitdem hat man in den Gymnasien keine lateinischen Verse mehr geschmiedet?«
    »Keinen halben Hexameter mehr!«
    »Und ist die lateinische Prosa bei dieser Gelegenheit auch gleich abgeschafft worden?«
    »Nein, erst zwei Jahre später, und zu Recht! Können Sie sich vorstellen, wie der beste der Abiturkandidaten den Satz
Immanis pecoris custos
28 übersetzt hat?«
    »Nein.«
    »Folgendermaßen: Gardien d’une immense pécore 29 !«
    »Unmöglich!«
    »Und
Patiens quia aeternus
30 ?«
    »Keine Ahnung!«
    »Patient parce qu’il éternue 31 ! Daraufhin musste der Kanzler der Universität einsehen, dass es höchste Zeit war, Latein aus dem Unterricht zu verbannen.«
    Mein Gott, ich platzte fast vor Lachen! Der besorgte Blick des Doktors konnte mich nicht daran hindern. Es war ganz klar, dass in seinen Augen mein Wahnsinn beängstigende Züge annahm! Vollständiger Gedächtnisschwund auf der einen Seite, unmotivierte Heiterkeitsausbrüche auf der anderen! … Das musste ihn zur Verzweiflung treiben.
    Und sicher hätte sich meine Ausgelassenheit noch ins Unendliche fortgesetzt, wäre meine Aufmerksamkeit nicht durch die Schönheit des Ortes gefangen genommen worden.
    Wir fuhren nämlich den Boulevard Cornuau hinunter, der dank eines zwischen der Stadt und der Verwaltung der Arbeiterhäuser gütlich ausgehandelten Kompromisses in Stand gesetzt worden war. Links erhob sich der Bahnhof von Saint-Roch. Nachdem es bereits während seiner Erbauung so bemerkenswert rissig geworden war, schien dieses Baudenkmal nunmehr jenen Vers von Delille zu rechtfertigen 32 :
     
    Seine unverwüstliche Fülle hat die Zeiten erschöpft!
     
    Die Bahnschienen verliefen in der Mitte des Boulevards und wurden von einer vierfachen Baumreihe überschattet, deren Pflanzung ich beigewohnt hatte, die aber den Eindruck erweckten, zweihundert Jahre alt zu sein!
    Einige Sekunden später kamen wir auf der Hotoie an. Was für Veränderungen hatte diese schöne Promenade durchgemacht, auf der sich im 14. Jahrhundert »die picardische Jugend erquickt«! Jetzt stellte sie sich als eine Art Schlosswiese dar, mit weitläufigen Rasenflächen nach englischem Vorbild, Sträucher-und Blumenbeeten, die die rechteckige Form der Areale verbargen, welche den alljährlichen Ausstellungen vorbehalten waren. Eine neue Anordnung jener Bäume, die sich gestern noch gegenseitig erdrückt hatten, verschaffte ihrem Wuchs Platz und Luft, sodass sie es inzwischen mit den gigantischen »Wellingtonias« aus Kalifornien aufnehmen konnten.
    Die Hotoie war voll von Besuchern. Das Programm hatte mich nicht getäuscht. Dort reihte der Regionalwettbewerb des französischen Nordens seine vielen Viehställe, Buden, Zelte, Kioske jeglicher Art und Farbe aneinander. Aber der Abschluss dieser Landwirtschafts-und Industriemesse stand noch am selben Tag bevor. In einer knappen Stunde sollten die zwei-und vierfüßigen Preisträger ausgezeichnet werden.
    Diese Wettbewerbe gefallen mir, denn mit Ohr und mit Auge kann man auf ihnen manch nützliches Wissen sammeln. Das schrille Geschepper arbeitender Maschinen, das Prusten des Dampfes, das trostlose Blöken in ihren Umzäunungen eingeschlossener Schafe, das ohrenbetäubende Gegacker aus den Hühnergehegen, das Muhen der großen Rinder, die ihre Auszeichnungen einfordern, die Ansprachen der Autoritäten, deren bombastische Satzgefüge über die

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