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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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endlich auf städtischem Sockel? Nicht zu glauben! 21
    Ich stürzte den Boulevard Saint-Michel 22 entlang, schaute auf die Bahnhofsuhr. Sie ging nur noch fünfundvierzig Minuten nach! Welch ein Fortschritt! Schließlich fiel ich wie eine Lawine in die Rue de Noyon ein.
    Hier erhoben sich zwei Gebäude, die ich nicht kannte, nicht kennen konnte. Auf der einen Seite erblickte ich das Haus der Industriellen Gesellschaft mit seinen schon alten Bauten, aus dem durch einen hohen Schornstein der Rauch hinaustrat, der die bewunderungswürdigen Webemaschinen von Édouard Gand in Gang setzen mochte – endlich war der Traum unseres gelehrten Kollegen Wirklichkeit geworden. 23 Auf der anderen Seite erhob sich ein prächtiges Postgebäude, das ganz und gar im Gegensatz zu dem feuchten und dunklen Verlies stand, in dem es mir am Vortag nach zwanzig Minuten Warten gelungen war, eines Briefes habhaft zu werden, an einem jener engen Schalter, die hervorragend dazu geeignet sind, um sich einen steifen Hals zu holen!
    Das versetzte meinem gemarterten Hirn den letzten Schlag! Ich entwich durch die Rue Saint-Denis, kam am Justizpalast vorbei … Unglaublich! Er war jetzt gänzlich fertiggestellt, aber das Appellationsgericht fand weiterhin unter dem Dach statt! Ich erreichte den Saint-Michel-Platz … Das Monument des Peter von Amiens stand noch immer da und rief uns zu neuen Kreuzzügen auf! Ich warf einen Seitenblick auf die Kathedrale … Der kleine Glockenturm auf der rechten Seite war repariert und das Kreuz der riesigen Turmspitze, das sich ehemals unter dem westlichen Sturmwind gebeugt hatte, erhob sich aufrecht mit der Geradheit eines Blitzableiters! Ich rannte auf den Vorplatz … Das war keine enge Sackgasse mit schäbigen Baracken mehr, sondern ein großer, weitläufiger, regelmäßig angelegter Platz, der von schönen Häusern gesäumt wurde und der das stolze Musterstück gotischer Baukunst aus dem 13. Jahrhundert voll zur Geltung brachte.
    Ich zwickte mich bis aufs Blut! Ein Schmerzensschrei entrang sich meinen Lippen und bewies mir, dass ich durchaus wach war. Ich suchte nach meiner Brieftasche, überprüfte den Namen auf meinen Visitenkarten. Es war meiner! Ich war ich selbst, nicht irgendein Herr, der geradewegs aus Honolulu mitten in die Hauptstadt der Picardie hinabgefallen war!
    »Aufgepasst«, sagte ich mir, »jetzt nur nicht den Kopf verlieren! Entweder hat sich Amiens seit gestern radikal verändert, was nicht anzunehmen ist, oder ich bin gar nicht in Amiens! … Zum Teufel, was ist dann mit dem Rohrbruch auf dem Périgord-Platz? Die Somme ist ja nur ein paar Schritte entfernt, da will ich mal hingehen … Die Somme! Und wenn man mir weismachen wollte, dass sie jetzt ins Mittelmeer oder ins Schwarze Meer fließt, ich hätte kein Recht, darüber erstaunt zu sein!«
    In diesem Moment spürte ich, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte. Mein erster Gedanke war, dass mich jetzt meine Wärter eingefangen hatten. Doch nein, an der Art der Berührung merkte ich, dass es die Hand eines Freundes war.
    Ich wandte mich um.
    »Ja, guten Tag, mein lieber Klient!« sagte mir ein dicker Herr mit freundlicher Stimme und rotem, strahlenden Gesicht, ganz weiß gekleidet, den ich noch nie gesehen hatte.
    »Mit wem, mein Herr, habe ich bitte schön die Ehre?«, fragte ich, entschlossen, jedes Missverständnis von vornherein auszuräumen.
    »Wie, erkennen Sie nicht mehr ihren Arzt?«
    »Mein Arzt ist der Doktor Lenoël«, antwortete ich, »und ich …«
    »Lenoël«, rief der Mann in Weiß. »Bester Klient, sind Sie denn toll?«
    »Wenn nicht ich, lieber Herr, dann sind es Sie«, antwortete ich. »Also, bitte, entscheiden Sie sich!«
    Das war doch sehr großzügig von mir, ihm die Wahl zu lassen!
    Mein Gesprächspartner betrachtete mich aufmerksam.
    »Hm tja!« machte er, und sein fröhliches Gesicht nahm eine besorgte Miene an, »Sie gefallen mir aber gar nicht! Das ist nicht schön, aber überhaupt nicht! Ich habe das gleiche Interesse wie Sie, dass es Ihnen gut geht! Schließlich ist es nicht mehr wie zu Zeiten des Doktor Lenoël und seiner gelehrten Zeitgenossen, Alexandre, Richer, Herbet, Peulevé, Faucon und wie sie alle heißen – tadellose Mediziner, ganz gewiss … Aber schließlich haben wir doch gewisse Fortschritte gemacht! …«
    »Ach«, entfuhr es mir, »gewisse Fortschritte! … Heilen Sie etwa jetzt Ihre Kranken?«
    »Unsere Kranken! Haben wir denn Kranke, seit in Frankreich chinesische Bräuche eingeführt

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