Erzählungen
worden sind? Es ist hier so, als wären Sie in China.«
»In China? Das wundert mich überhaupt nicht!«
»Ja doch! Unsere Klienten bezahlen uns nur, solange es ihnen gut geht. Fühlen sie sich schlecht, bleibt die Kasse zu! Auf diese Weise haben wir kein Interesse mehr daran, dass sie jemals krank werden. Deshalb gibt es keine Epidemien mehr, oder so gut wie keine! Allerorten blühendes Wohlbefinden, das wir hegen und pflegen, wie ein Pächter seinen Gutsbetrieb in Schuss hält! Krankheiten – bei unserem neuen System würden sie die Ärzte in den Ruin treiben, und diese machen ganz im Gegenteil ein gutes Geschäft.«
»Verhält es sich mit den Anwälten genauso?«, fragte ich feixend.
»Oh nein! Sie verstehen doch, dass es dann keine Prozesse mehr gäbe, und welche Anstrengungen man auch immer unternehmen mag, ein paar kleine Krankheiten kommen immer noch vor … insbesondere bei Geizhälsen, die sich unsere Honorare sparen wollen! Also, lieber Klient, woran fehlt es uns?«
»Es fehlt mir nichts.«
»Erkennen Sie mich jetzt?«
»Ja«, antwortete ich, um den merkwürdigen Doktor nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, der schließlich auch gegen mich im Recht sein konnte.
»Ich werde Sie nicht so einfach dahinsiechen lassen«, rief er, »Sie würden mich noch ruinieren! Zeigen Sie doch mal Ihre Zunge.«
Ich streckte ihm meine Zunge aus und muss wohl einen ziemlich erbärmlichen Anblick geboten haben.
»Oh! Oh!«, machte er, nachdem er sie mit einer Lupe untersucht hatte. »Belegt! Und Ihr Puls?«
Ergeben bot ich ihm meine Hand dar.
Der Doktor zog ein kleines Gerät aus seiner Tasche hervor, von dem ich vor kurzem hatte reden hören, und indem er es gegen mein Handgelenk presste, erhielt er auf einem vorbereitetem Stück Papier mein Pulsdiagramm, das er schnell überflog, wie ein Telegraphist eine Depesche liest.
»Zum Teufel auch! Zum Teufel!«, entfuhr es ihm; blitzschnell nahm er ein Thermometer und steckte es mir, ehe ich mich versah, in den Mund.
»Vierzig Grad!« schrie er aus und wurde blass. Sein Honorar war in höchstem Maße gefährdet.
»Aber was habe ich denn?« fragte ich, noch ganz außer Fassung über die unerwartete Einfuhr des Thermometers.
»Oh! Oh!«
»Schon gut, ich kenne diese Antwort, aber sie hat den Nachteil, nicht ausreichend deutlich zu sein! Wohlan, ich will ihnen sagen, was ich habe, Doktor! Ich glaube, dass ich seit heute morgen den Kopf verliere!«
»Vor Ihrer Zeit, werter Klient, vor Ihrer Zeit!« antwortete der Spaßvogel, wohl in der Absicht, mich zu beruhigen.
»Das ist überhaupt nicht zum Lachen!« sagte ich. »Ich erkenne niemanden mehr, nicht mal Sie, Doktor! Mir scheint, ich hätte Sie noch nie gesehen!«
»Oh doch! Sie sehen mich einmal im Monat, wenn ich vorbeikomme, um mein bescheidenes Honorar abzuholen!«
»Nein doch! Und ich frage mich sogar, ob diese Stadt Amiens ist, und diese Straße die Rue Beauvais!«
»Ja, ja, lieber Klient! Wir sind in Amiens! Ach, wenn wir nur die Zeit hätten, die Kathedrale hochzusteigen, dann würden Sie bestimmt die Hauptstadt unserer Picardie wiedererkennen, die jetzt von ihren Außenfestungen geschützt wird. Sie würden die charmanten Täler der Somme, der Avre und der Selle wiedererkennen, überschattet von schönen Bäumen, die nur noch zwei Mark im Jahr einbringen, die uns aber ein großzügiger Magistrat intakt erhalten hat! Sie würden die Außenboulevards sehen, die den Fluss auf zwei herrlichen Brücken überqueren und einen grünen Gürtel um sie schließen! Sie würden auf die Industriestadt blicken, die sich so schnell auf dem rechten Somme-Ufer entwickelt hat, seitdem die Zitadelle abgerissen wurde! Sie würden die breite Verkehrsverbindung namens Rue Tourne-Coiffe wahrnehmen 24 und so weiter … Aber, mein lieber Klient, ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen und wenn Sie es vorziehen, dass wir uns in Carpentras befinden …«
Ich sah ein, dass der gute Mann es vorzog, mir nicht allzu offen zu widersprechen, und in der Tat sollte man ja mit Irren pfleglich umgehen.
»Doktor …«, sagte ich, »hören Sie mir zu … Ich werde ihre Anweisungen artig befolgen … Ich will Ihnen wahrhaftig nicht … mein Geld stehlen! … Aber beantworten Sie mir eine Frage.«
»Nur zu, lieber Klient!«
»Heute ist doch Sonntag? …«
»Der erste Sonntag im August.«
»In welchem Jahr?«
»Beginn geistiger Zerrüttung durch Gedächtnisverlust«, murmelte er. »Das wird seine Zeit dauern!«
»Welches Jahr?« beharrte
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