Erzählungen
ich.
»Im Jahr …«
Aber gerade als mir mein Doktor antworten wollte, wurde er durch gellende Schreie unterbrochen.
Ich blickte mich um. Eine Gruppe einfältiger Gaffer hatte sich um einen Mann von ungefähr sechzig Jahren gebildet, der einen merkwürdigen Anblick bot. Dieses Individuum schritt mit verstörter Miene vor sich hin und schien nicht recht sein Gleichgewicht halten zu können – so als fehlte ihm die Hälfte seines Selbst.
»Was ist denn das für einer?«, fragte ich meinen Doktor, der mich eingehakt hatte und zu sich selbst sagte: »Man muss ihn zerstreuen, sonst macht seine Monomanie noch derartige Fortschritte, dass man ihn …«
»Ich frage Sie, was das für eine Person da ist, und weshalb machen sich die Leute über ihn lustig?«
»Diese Person«, antwortete mein Doktor, »Sie fragen mich allen Ernstes, wer das ist? Aber das ist doch der einzig übriggebliebene Junggeselle im ganzen Departement Somme!«
»Der letzte?«
»Gewiss! Sie hören doch, wie man ihn verspottet!«
»Dann ist es heutzutage verboten, Junggeselle zu sein!«, wunderte ich mich.
»So ungefähr, seitdem die Ehelosigkeit besteuert wird. Eine stetig ansteigende Abgabe. Je älter man wird, um so mehr muss man zahlen, und je weniger man andererseits Gelegenheiten findet, eine Familie zu gründen, um so schneller sieht man sich in kurzer Zeit ruiniert! Der Unglückliche, den Sie da sehen, wird ein ansehnliches Vermögen durchgebracht haben!«
»Er hat im schönen Geschlecht also eine unüberwindliche Abscheu erregt? …«
»Nein, es ist das schöne Geschlecht, dem gegenüber er eine unüberwindliche Abneigung empfindet. Er hat dreihundertsechsundzwanzig Hochzeiten verpasst!«
»Aber ich vermute, dass es doch noch heiratswillige junge Mädchen geben wird?«
»Wenige! Ganz wenige! Kaum heiratsfähig, sind sie schon weggeheiratet!«
»Und Witwen?«
»Ach, die Witwen! Denen lässt man nicht einmal die Zeit zu reifen! Kaum sind die zehn Monate um, geht es ab zum Rathaus! Ich bin mir ganz sicher, dass es zur Zeit in ganz Frankreich keine fünfundzwanzig verfügbaren Witwen gibt!«
»Aber die Witwer?«
»Oh, die haben’s hinter sich! Sie werden von der Zwangsverpflichtung entbunden und haben von den Steuereintreibern nichts mehr zu befürchten!«
»Dann wird mir klar, weshalb die Boulevards vor jungen und alten Paaren nur so strotzen, die sich unter dem Mantel der Ehe uniformiert haben! …«
»Der die Flagge der Vergeltung war, mein lieber Klient!«, erwiderte mein Doktor.
Ich musste lauthals in Lachen ausbrechen.
»Kommen Sie, kommen Sie!«, sagte er und ergriff mich am Arm.
»Einen Moment, Doktor! – Wir sind doch wirklich in Amiens, oder?«
»Jetzt fängt das schon wieder an!«, raunte er.
Ich wiederholte meine Frage.
»Ja, doch, in Amiens!«
»In welchem Jahr?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, im Jahre …«
Ein dreifaches Pfeifen erklang und übertönte sein Wort, gefolgt von einem kräftigen Alphornruf. Ein ungeheurer Wagen kam uns aus der Rue de Beauvais entgegen.
»Zur Seite! Gehen Sie zur Seite«, schrie er und schubste mich zur selben. Und mir schien, als murmelte er in seinen Bart: »Jetzt fehlte noch, dass er sich ein Bein brechen lässt. Dann wär’s ganz um meine Bezüge geschehen!«
Es war ein Tramway-Wagen. Ich hatte noch nicht bemerkt, dass die Straßen der Stadt mit stählernen Schienen verlegt worden waren, und ich gebe zu, dass mir diese Neuerung ganz natürlich schien, obwohl noch gestern weder von Omnibussen noch von Tramways die Rede gewesen war!
Mein Doktor gab dem Fahrer jenes wuchtigen Fahrzeugs ein Zeichen, und wir nahmen auf der Plattform Platz, die schon mit vielen Reisenden besetzt war.
»Wo führen Sie mich hin?«, fragte ich ihn, völlig gefasst, alles mit mir geschehen zu lassen.
»Zum Regionalwettbewerb.«
»Im Park der Hotoie?«
»Im Park der Hotoie.«
»Dann sind wir also wirklich in Amiens?«
»Ja«, antwortete mein Doktor gedehnt und warf mir einen flehentlichen Blick zu.
»Und wie groß ist zur Zeit die Bevölkerung seit der Besteuerung der Ehelosigkeit?«
»Vierhundertundfünfzigtausend Einwohner.« 25
»Und wir sind im Jahre des Herrn? …«
»Im Jahre des Herrn …«
Ein zweites Alphornsignal hielt mich wieder mal davon ab, eine Antwort zu hören, an der mir außerordentlich gelegen war.
Der Wagen war in die Rue du Lycée eingebogen und näherte sich dem Boulevard Cornuau 26 .
Als wir am Gymnasium vorbeifuhren, dessen Kapelle bereits das
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