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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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aufschreibe, bin ich schon in einem schönen Alter, meine lieben Kinder, und weiß Bescheid über Dinge, die ich damals – sogar auf musikalischem Gebiet – noch nicht wußte.
    Ja, Herr Dis hat Fräulein Es geheiratet, und wir sind sehr glücklich geworden, und unsere Geschäfte waren dank Fleiß und gutem Benehmen erfolgreich! Wenn ein Posthalter sich nicht zu benehmen wüßte, wer weiß …
    Also, vor etwa vierzig Jahren sangen wir in der Kirche, denn ich muß euch sagen, daß die kleinen Mädchen wie auch die kleinen Knaben der Singschule von Kalfermatt angehörten. Man fand dies nicht unpassend, und das mit Recht. Wer hat sich schon je darüber Sorgen gemacht, ob die Engel im Himmel männlichen oder weiblichen Geschlechts sind?
III
    Der Schülerchor unseres Marktfleckens war dank seinem Leiter, dem Organisten Eglisack, weitherum bekannt. Was war er doch für ein Meister im Solfeggieren, und mit wieviel Geschick ließ er uns Stimmübungen machen! Erstaunlich, wie er uns den Takt, die Notenlänge, die Klangfarbe, den Grundton, die Tonleiter beibrachte! Sehr tüchtig war er, wirklich sehr tüchtig, der ehrenwerte Eglisack … Man sagte von ihm, er sei ein genialer Musiker, ein unübertroffener Kontrapunktist, und er habe eine außergewöhnliche Fuge, eine vierstimmige Fuge komponiert.
    Da wir nicht so recht wußten, was das war, fragten wir ihn eines Tages danach.
    »Eine Fuge«, antwortete er und hob seinen Kopf, der die Form einer Baßgeige hatte.
    »Ist es ein Musikstück?« fragte ich.
    »Ein Stück erhabener Musik, mein Kind.«
    »Wir möchten es gerne hören«, rief ein kleiner Italiener namens Farina, der eine hübsche Altstimme besaß, die hinaufstieg … und hinaufstieg … bis zum Himmel.
    »Ja«, fügte der kleine Deutsche Albert Hockt hinzu, dessen Stimme hinabstieg … und hinabstieg … bis auf den Grund der Erde.
    »Bitte, Herr Eglisack …!« wiederholten die anderen kleinen Knaben und Mädchen.
    »Nein, Kinder. Ihr werdet meine Fuge erst kennenlernen, wenn sie vollendet ist …«
    »Und wann wird das sein?« fragte ich.
    »Nie.«
    Wir blickten uns an, und er lächelte hintergründig.
    »Eine Fuge ist nie vollendet«, sagte er zu uns. »Man kann immer neue Stimmen hinzufügen.«
    Also bekommen wir die berühmte Fuge des weltlichen Eglisack nie zu Gehör; aber er hatte den Hymnus zu Ehren des heiligen Johannes für uns in Musik umgesetzt, ihr wißt ja, jenen Psalm, dessen Anfangssilben Guido d’Arezzo zur italienischen Bezeichnung der Töne verwendete:
     
    Ut
(Do) queant laxis
    Re
sonare fibris
    Mi
ra gestorum
    Fa
muli tuorum,
    Sol
ve polluti,
    La
bii reatum,
    Sancte Joannes.
     
    Das
Si
existierte zur Zeit von Guido d’Arezzo noch nicht. Erst im Jahr 1026 ergänzte ein gewisser Guido die Tonleiter, indem er den siebten Ton hinzufügte, und nach meiner Meinung hat er gut daran getan.
    Wirklich, wenn wir diesen Hymnus sangen, waren die Leute von weither gekommen, nur um ihn zu hören. Was aber die Bedeutung dieser merkwürdigen Worte anbelangt, so kannte sie an der Schule niemand, nicht einmal Herr Walrügis. Man nahm an, es handle sich um Latein, aber das war nicht so sicher. Immerhin soll dieser Psalm am Tag des Jüngsten Gerichts gesungen werden, und sehr wahrscheinlich wird der Heilige Geist, der alle Sprachen kennt, ihn in das Idiom des Paradieses übersetzen.
    Und trotzdem galt Herr Eglisack als ein großer Komponist. Unglücklicherweise litt er jedoch an einem sehr bedauernswerten Gebrechen, das die Tendenz hatte, sich zu verschlimmern: er wurde im Alter schwerhörig. Wir bemerkten es, aber er wollte es nicht zugeben. Übrigens schrien wir, wenn wir mit ihm sprachen, um ihm keinen Kummer zu bereiten, und es gelang uns, sein Trommelfell mit unseren Falsettstimmen in Schwingung zu versetzen. Aber die Stunde seiner völligen Taubheit nahte.
    Es geschah an einem Sonntag, nach der Vesper. Der letzte Psalm der Komplet war soeben beendet, und Eglisack gab sich auf der Orgel den Launen seiner Phantasie hin. Er spielte, er spielte, und das wollte nicht mehr aufhören. Man wagte die Kirche nicht zu verlassen aus Furcht, ihn in Verlegenheit zu bringen. Aber da setzte der Balgtreter aus, ihn hatten die Kräfte verlassen. Der Orgel geht die Luft aus … Eglisack hat es nicht bemerkt. Seine Finger schlagen die Akkorde an, breiten die Arpeggien aus. Kein einziger Ton kommt heraus, und doch hört er sich immer noch in seiner Künstlerseele … Man hat begriffen: er ist vom Unglück getroffen worden.

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