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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Niemand wagt es ihm zu sagen, obwohl der Balgtreter die enge Treppe von der Empore herabgestiegen ist …
    Eglisack hörte nicht zu spielen auf. Und den ganzen Abend ging es so weiter, auch die ganze Nacht hindurch, und noch am nächsten Tag bewegte er seine Finger auf der stummen Tastatur. Man mußte ihn wegschleppen … Der Arme wurde sich endlich bewußt, daß er taub war. Aber das hinderte ihn nicht daran, seine Fuge zu vollenden. Er würde sie nie hören, das war alles.
    Seit jenem Tage spielte in der Kirche von Kalfermatt die große Orgel nicht mehr.
IV
    Sechs Monate gingen vorüber. Es kam ein sehr kalter November. Ein weißer Mantel bedeckte das Gebirge und reichte bis in die Straßen hinunter. Wir kamen mit einer roten Nase und mit blau angelaufenen Wangen in der Schule an. Ich wartete an der Ecke des Dorfplatzes auf Betty. Wie hübsch sie doch aussah unter der hochgeschlagenen Kapuze!
    »Bist du es, Joseph?« fragte sie.
    »Ja, ich bin es, Betty. Es ist bissigkalt heute morgen. Pack dich gut ein! Knöpfe deinen Pelzmantel zu …«
    »Ja, Joseph. Wollen wir nicht rennen?«
    »Sicher. Gib mir deine Bücher, ich werde sie tragen. Paß auf, damit du dich nicht erkältest. Es wäre wirklich ein Unglück, wenn du deine hübsche Stimme verlieren würdest …«
    »Und du erst, Joseph, deine Stimme!«
    Es wäre tatsächlich ein Unheil gewesen. Und nachdem wir in unsere Hände gehaucht hatten, rannten wir aus Leibeskräften los, um warm zu bekommen. Zum Glück war das Klassenzimmer geheizt. Der Ofen fauchte. Mit dem Holz wurde nicht gespart. Es gibt so viel davon am Fuß des Berges, und der Wind sorgt dafür, daß es gefällt wird. Man braucht es nur noch aufzulesen. Wie lustig knisterten die Zweige! Wir setzten uns dicht gedrängt um das Feuer. Herr Walrügis blieb auf seinem Katheder, seine pelzgefütterte Mütze hatte er bis zu den Augen heruntergezogen. Prasselndes Knallen begleitete die Geschichte von Wilhelm Tell, als wären es Gewehrschüsse. Und ich dachte, wenn Gessler nur einen einzigen Hut besessen habe, so müsse er sich erkältet haben, während seiner zuoberst an der Stange hing, falls sich diese Dinge im Winter ereignet hatten!
    Wir arbeiteten tüchtig: Lesen, Schreiben, Rechnen, Auswendiglernen, Diktat, und der Lehrer war zufrieden. Hingegen ruhte der Musikunterricht. Man hatte niemanden gefunden, der den alten Eglisack hätte ersetzen können. Natürlich würden wir alles, was er uns beigebracht hatte, vergessen! Wie klein war doch die Wahrscheinlichkeit, daß je ein anderer Leiter an die dörfliche Singschule nach Kalfermatt kommen würde! Schon begann die Kehle zu rosten, die Orgel auch, und das würde Reparaturen kosten, Reparaturen …
    Der Pfarrer verbarg seinen Verdruß keineswegs. Wie oft sang er doch falsch, der Arme, jetzt, da ihn die Orgel nicht mehr begleitete, besonders während der Einleitung zur Messe! Die Tonlage wurde immer tiefer, und wenn er das
supplici confessione dicentes
anstimmen sollte, konnte er lange die Noten unter seinem Chorhemd suchen, er fand sie nicht mehr. Das reizte einige zum Lachen. Bei mir erregte es Mitleid – bei Betty auch. Nichts war jetzt so erbärmlich wie die Gottesdienste. An Allerheiligen gab es keine einzige schöne Musik, und Weihnachten kam näher mit seinen
Gloria,
seinen
Adeste Fideles,
seinen
Exultet …!
    Der Pfarrer hatte es zwar mit einem anderen Mittel versucht, nämlich, die Orgel durch ein Schlangenhorn zu ersetzen. Zumindest würde er mit einem Schlangenhorn nicht mehr falsch singen. Die Schwierigkeit bestand nicht darin, sich dieses vorsintflutliche Instrument zu beschaffen. Es gab eines, das an der Wand der Sakristei hing und dort seit Jahren schlief. Aber wo den Bläser hernehmen? Könnte denn nicht der Balgtreter dafür zu gebrauchen sein, der jetzt ohne Beschäftigung war? »Kannst du blasen?« fragte ihn der Pfarrer eines Tages.
    »Ja«, entgegnete der gute Mann, »mit meinem Blasebalg, aber nicht mit meinem Mund.«
    »Macht nichts! Versuche es doch einmal …«
    »Ich will es versuchen.«
    Und er versuchte es, er blies in das Schlangenhorn, aber der Ton, den er hervorbrachte, war jämmerlich. Lag es an ihm, lag es an dem hölzernen Tier? Schwer zu sagen. Man mußte also verzichten, und wahrscheinlich würde die kommende Weihnachtsfeier ebenso traurig sein wie das verflossene Allerheiligenfest. Denn wenn die Orgel mangels Eglisack ausfiel, funktionierte auch der Schülerchor nicht. Niemand, der uns Gesangstunden erteilte, niemand, der

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