Erzählungen
Handgelenk; ganz mechanisch, weil sie die Bewegung gut einige tausend Male in ihrem Leben gemacht hatte, legten sich Zeige- und Mittelfinger auf die Pulsader. Der Schlag war unregelmässig, manchmal stockte er – der Pulsschlag ähnelte entschieden dem Gang des Mannes. Und dann hustete der Mann. Es klang erbarmungswürdig, ganz tief aus der Brust heraus.
»Kommen Sie mit«, sagte Schwester Klara energisch. Sie half dem Mann von der Bank aufstehen, hiess ihn den Arm um ihre Schultern legen, und sie selbst umspannte mit dem ihren seinen mageren Oberkörper. Der Mann liess sich gut führen.
Drinnen war es warm, aber angenehm trocken. Der Mann hustete stärker.
»Wir haben Platz«, sagte die Schwester, »ich kann Sie als Notfall vorläufig aufnehmen. Natürlich müssen wir den Entscheid des Doktors abwarten. Aber der Doktor Niederhäuser ist kein ungäbiger Mann.«
Eine Tür. Ein weissgekachelter Raum. Eine Wanne und eine Bank an der Wand.
»So, sitzen Sie da ab. Ich rüste Ihnen ein Bad. Und dann will ich Ihnen oben ein Bett überziehen. Es ist ein Zweierzimmer leer. Sie werden ganz allein sein.«
Das Wasser rauschte. Der Raum füllte sich mit Dampf. Zusammengesunken sass der Mann auf der Bank. Er hatte erst drei Worte gesprochen: »Herz, das Herz«, hatte er gesagt. Aber nachher hatte er geschwiegen.
»Wie heissen Sie eigentlich?« fragte Schwester Klara. Sie beugte sich über die Wanne und rührte das Wasser mit dem Thermometer, der mit Holz umkleidet war.
»Louis Armstrong«, sagte der Mann. Er hatte die Mütze neben sich gelegt. Eine spitze Nase sprang vor. Seine Eckzähne trugen goldene Kappen.
»Engländer?«
»Auslandschweizer.«
Das Haar des Mannes war grau gesprenkelt. Über denOhren, im Nacken, stand es in kleinen Wirbeln auf. Es war lange nicht geschnitten worden. Auch unrasiert war der Mann.
Er sprach hochdeutsch mit einem leichten Akzent. Vielleicht war es diese Tatsache, die Schwester Klara für ihn einnahm. Wenn man tagein, tagaus Bauern zu pflegen hat und Bauernfrauen, manchmal Knechte, im besten Fall einen Ladenjüngling oder eine Ladentochter, dann ist ein Fremder immerhin eine interessante Neuigkeit. Ein Fremder mit einem englischen Namen und einem fremden Akzent.
»Ich werde«, sagte der Fremde mühsam, »ich werde mich erkenntlich zeigen können. Es ist mir passiert ein Unglück, aber ich habe Freunde, einflussreiche Freunde. Und glauben Sie mir, ich habe gehabt Schlösser in Schottland und ein Haus in London, aber alles verloren ...«
»Sagen Sie, haben Sie Fieber?« fragte Schwester Klara. »Sie hoffen doch nicht, dass ich Ihnen glauben werde? So dumm bin ich nicht!« Sie stand vor dem Mann, die Fäuste in den Seiten, ihr Gesicht war sehr rot, auf den Wangen traten einige geplatzte Äderchen deutlich hervor.
»Ich verlange nicht, Sie sollen mir glauben, obwohl ich beweisen kann, was ich sage zu Ihnen ...« Der Mann sprach gut, und die ungewohnten Umstellungen waren eigentlich ein Reiz mehr. Schwester Klara wurde noch röter.
»Wir können dies alles später besprechen, jetzt baden Sie, ich hab' das Wasser extra nicht zu heiss gemacht, wegen Ihrem Herz. Dann will ich Ihnen noch einen Rasierapparat bringen, und nachher steck' ich Sie ins Bett, bis der Arzt kommt.«
»Ich werde schon auslösen können mein Gepäck«, sagte der Fremde. »Es liegt in Bern. Ich wollte gehen einen Freund besuchen, der wohnt in Thun, er hätte mir geholfen.«
»Zu Fuss, von Bern bis Thun? Haben Sie nicht schreiben können?«
»Sie haben mich ... wie sagen Sie? ... hinausgeworfen aus Hotel in Bern, weil ich nicht hab' zahlen können. Ich danke sehr, Sister, für Ihre Humanität.« (Er sprach Hjumäniteed aus.)
»Ja, ja, ziehen Sie jetzt Ihren Mantel aus ...«
Sie prüfte den Anzug. Der Rock ging noch an. Das Hemd auch. Es war cremefarben, ein wenig schmutzig, aber immerhin Rohseide. Die Schmetterlingsschleife war grau mit roten Tupfen.
Es war früh Abend geworden, denn man war erst Anfang Jänner. Im Zimmer war ein gelber Schein, weil die Stehlampe auf dem Nachttisch einen orangenen Schirm trug. Im Bett lag der Mann. Er war sauber rasiert und las, oder tat wenigstens so. Denn von Zeit zu Zeit liess er das Buch auf das Deckbett fallen und gähnte so hemmungslos, dass ihm das Wasser in die Augen trat. Dann war der Titel des Buches zu sehen: »Der Gott suchende Mensch.« Auf dem Nachttisch stand noch eine Kanne mit Tee und eine Tasse. Hin und wieder trank der Mann.
Schritte im Gang. Der Mann griff nach
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