Erzählungen
und bis jetzt war ihr Leben ruhig verlaufen. Einzig mit ihren Eltern hatte sie sich gezankt, weil diese sie hatten verheiraten wollen, damals, als sie einen Abscheu vor Männern gehabt hatte. Darum war sie in eine Pflegerinnenschule eingetreten. Mitachtzehn Jahren. Zuerst hatte sie schwere Arbeit gehabt. Fegen, Putzen. Sie verlor den Mut nicht. Dann war sie von einer älteren Schwester bearbeitet worden. Eine Art religiöser Schwärmerei war das Resultat: der leidenden Menschheit helfen, Bibel lesen, Kirchenlieder singen... Die ältere Schwester hatte sie protegiert. Sie war als Aushilfe in den Operationssaal gekommen. Dort begann die Stufenleiter von neuem: Putzen der Bestecke, Sterilisieren. Aber man sah manches. Man lernte. Die leidende Menschheit trat etwas in den Hintergrund, auch die religiöse Schwärmerei. Man interessierte sich für den »Fall«, manchmal konnte man mit einem Assistenten diskutieren. Bis der Tag kam, an dem man zum ersten Male bei einer Operation assistieren konnte. Man durfte den grossen Chef bedienen, ihm behilflich sein, sich anschnauzen lassen. Und dann, fast ein Festtag: die erste Narkose. Daneben etwa einmal ein Konzert, ein grosser Geiger, den man hörte. Am Sonntag Kirche. Zweimal in der Woche Bibelstunden. Aushilfe in den Krankensälen. Am Abend mit lauter Stimme den Kranken Kapitel aus der Bibel vorlesen, während ein paar Abgebrühte ihre Witze dazu machten – und man wurde rot. Die Assistenzärzte sahen einen kaum, der Chef war unnahbar, die Mitschwestern passten auf, aber sie fanden nichts. Und dann war man des sanften Gezänkes, der spitzigen Bemerkungen überdrüssig geworden, und als eine Oberschwester in ein Gemeindespital verlangt worden war, hatte man sich gemeldet. Man kannte eigentlich nur die Schattenseite des Lebens – sie war traurig. Kranke Körper, unzufriedene Patienten – immer hatten sie etwas zu reklamieren... Dankbarkeit?
Der Mann, den man aufgelesen hatte, gerade vor der Türe des Spitals, der schien dankbar zu sein. Er war höflich, von einer seltsam fremden Höflichkeit, die wirklich etwas Ungewohntes war. Er war zart, nie sprach er ein rohes Wort aus – und er küsste einem die Hand... EinVagant? Vielleicht. Ein Hochstapler? Auch möglich. Aber immerhin ...
Der Freund des Mannes hatte zweihundert Franken geschickt. Schwester Klara hatte den Brief, den der Mann geschrieben hatte, eigenhändig auf die Post getragen. Adressiert war er an: »Herrn Eugen Frutiger, Grand Hotel Palace, Thun«. Die Antwort war schon nach zwei Tagen gekommen, ein eingeschriebener Brief – und Geld war auch darin gewesen. Das Kuvert trug den Aufdruck des Hotels.
Die Thujahecken, die den Garten des Spitals umgaben, waren braun, die Rosenstöcke noch in Tannenreiser eingepackt. Einzig ein Haselbaum trug gelbe Kätzchen, und diese stäubten, wenn Vögel sich auf die dünnen Zweige setzten und dann wieder fortflogen. Die Sonne war warm und machte müde. Schwester Klara strickte an einem schwarzen Wollstrumpf. Neben ihr sass der Mann, blinzelte und lächelte manchmal. Er schien sich über irgend etwas zu freuen.
»Warum lachen Sie?« fragte Schwester Klara.
»Ich lache nicht«, sagte der Mann leise, »ich freue mich nur. Es ist schön, wenn die Sonnenstrahlen machen Regenbogenfarben um die Wimpern...«
»Sie reden wie ein kleines Kind, manchmal...« Und Schwester Klaras Stimme klang wirklich wie die Stimme einer Mutter, wenn sie sich über eine spassige Antwort ihres Sprösslings freut.
»Meine Mutter«, sagte der Mann, »ich habe nie gekannt meine Mutter. Ihre Eltern, sie leben noch?«
»Nein, die sind vor drei Jahren gestorben. Und ich hab' noch mit der Oberin vom Mutterhaus fast Krach bekommen, weil die gewollt hat, ich soll die Erbschaft hergeben. Aber was soll ich anfangen, wenn mir einmal der Dienst verleiden würde? Soll ich dann in ein Altersheim einziehen? Hier hab' ich's ja ruhig. Die Schwester, die mir hilft, ist ein guter Kerl. Aber wenn Sie wüssten, wie es anderswoist... Vielleicht bin ich ja schuld. Man hat mir immer gesagt, ich hab' einen schwierigen Charakter.«
»O nein, Sie haben sehr guten Charakter. Ausgezeichneten. Und viel haben Ihnen die Eltern hinterlassen?«
»Brauchen Sie etwas?« fragte Schwester Klara spöttisch. »Ich kann Ihnen schon etwas leihen, denn ich bin ja sicher, dass ich es nie mehr zurückbekommen werde. Trotz Ihren Schlössern in England. Die sind doch in England, die Schlösser, oder auf dem Mond?«
Der Mann schwieg. Sein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher