Erzählungen
war starr. Schwester Klara beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Dieses starre Schweigen überfiel ihn manchmal. Schwester Klara hätte gern gewusst, was der Mann in diesen Augenblicken dachte. »Ich will Sie nicht beleidigen. Sie brauchen Geld, und Ihr Freund will Ihnen wohl nicht mehr helfen? Für einen Monat haben Sie ja Ihr Kostgeld hier bezahlt. Und die letzten Tage haben Sie mir ja geholfen ... Sie scheinen etwas zu verstehen von Abrechnungen und solchen Sachen. Den Jahresabschluss für das Spital haben Sie mir ganz ordentlich gemacht. Sie haben eine schöne Schrift. Was wollen Sie jetzt eigentlich anfangen?«
»Oh, ich habe gedacht zu übernehmen ein Sanatorium«, sagte der Mann sehr ruhig. »Kleineres Sanatorium für leichtere Gemütskranke, so sagt man doch, und ich möchte suchen eine geeignete Kraft, eine wie Sie, Sister, als Aufsicht, als Oberschwester ... Sie verstehen. Aber Sie müssten austreten aus – wie soll ich sagen – aus Ihrem Verband, Ihrem Orden ...«
»Ein Sanatorium? Ein Schloss? Mit Ihrem Mantel und Ihren zerrissenen Schuhen?«
»Was hat zu tun meine Kleidung mit einem Projekt?« fragte der Mann. »Sie sagen, Sie haben Geld, ich habe Erfahrung ... Aber wenn Sie spotten ... Lassen wir es sein, Sister. Ich will noch fertig machen eine Abrechnung.«
Der Mann stand auf. Er trug einen alten Schlafrock, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, eine braune Kordel hielt ihn um die Hüften zusammen. Sein Haar war währenddieses Monats fast weiss geworden. Er ging ins Haus. Schwester Klara blieb sitzen, strickte weiter an ihrem Strumpf. Die Sonne war noch immer ermüdend warm, und auf dem Haselbaum sass ein kleiner Fink, der sang. Der gelbe Staub der Kätzchen flimmerte im Licht.
Am nächsten Morgen war der Mann verschwunden, und mit ihm sein alter Mantel, seine zerlöcherten Schuhe und seine verwaschene Schirmmütze. Schwester Klara hatte erwartet, dass auch Geld fehlen würde. Aber da war alles in Ordnung.
Was Schwester Klara in den nächsten Tagen am meisten fehlte, war merkwürdigerweise der Handkuss. Sie hatte sich an diese respektvolle Liebkosung gewöhnt. Und da der Handkuss zu dem Mann Armstrong gehörte, begann ihr auch der Mann Armstrong zu fehlen. Sie hatte die Achseln gezuckt, als sie am Morgen das Zimmer leer gefunden hatte: »Ein Vagant, der wieder Sehnsucht nach den Landstrassen bekommen hat...« Aber die Verachtung, die in diesen Worten steckte, war nicht ganz echt. Erstens sah der Mann trotz seines schäbigen Mantels und seiner Mütze nicht ganz nach einem Vaganten aus. Er sprach gut, er war nicht grob, er erzählte keine unanständigen Witze (»Was man in den Krankensälen sonst zu hören bekommt! Du lieber Gott! Nur gut, dass man an Schmutz gewöhnt ist!« murmelte die Schwester), es war etwas um den Mann gewesen – und erst jetzt in der Erinnerung wurde diese zitternde Atmosphäre, die ihn umgeben hatte, deutlicher: Atmosphäre von Abenteuer, Geheimnis, von dem, was man sich unter Welt vorstellt, wenn man sie nie gesehen hat. Die Art, wie der Mann den Löffel hielt, die Gabel. Dass er, als er aufstehen konnte, gebeten hatte, sich jeden Morgen im Badzimmer waschen zu dürfen (und er wusch jeden Morgen den ganzen Körper!), dass er sich von dem Geld, das nach der Bezahlung der Spitalrechnung übriggeblieben war, eine gute Seife, Kölnischwasser gekauft hatte, einen Rasierapparat – und sich jeden Morgen rasierte ...Sie hatte ihn zuerst ausgelacht. Dann bewundert, im stillen. Jetzt ging sie manchmal in das verlassene Zimmer und schnupperte in der Luft. Es roch noch schwach nach der Seife und dem Kölnischwasser. Wohin hatte er die Toilettengegenstände gepackt? Er hatte ja keinen Koffer! War er weiter gewalzt, nach Thun, zu seinem Freunde? ...
Am dritten Tage hielt sie die Ungewissheit nicht mehr aus und telephonierte nach Thun ans Grand Hotel Palace und verlangte Herrn Frutiger zu sprechen.
»Frutiger? Wir haben keinen Herrn Frutiger als Gast.« »Herr Eugen Frutiger. Vor drei Wochen war er noch bei Ihnen.«
»Ach, Sie meinen den Maître d'Hôtel. Ich will ihn rufen.« Schwester Klara lächelte, während sie wartete. Der reiche Freund im Palace Hotel war Kellner. Und dann zuckte sie die Achseln, und der Mann Armstrong wurde ihr eigentlich noch sympathischer. Sie dachte, dass es unangenehm sein musste, in einem triefenden Mantel von der Landstrasse aufgelesen zu werden, man machte eine trostlose Figur, man musste Eindruck schinden – was war da weiter dabei? Nur hätte er
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