Erzählungen
dem Buch und las aufmerksam. Dann ging die Türe auf, und Schwester Klara trat ein. Sie trug eine weisse Ärmelschürze, auf ihrem dunklen Haar sass eine gestärkte Haube.
»Gefällt Ihnen das Buch?« fragte sie und legte eine Injektionsspritze auf den Tisch.
»Kraft, ja, es gibt Kraft«, sagte der Mann ernst. Ein unterdrücktes Gähnen liess die Muskeln seiner Wangen hervortreten, so stark pressten sich die Kiefer zusammen.
»Ja«, sagte Schwester Klara, »Kraft brauchen wir. Ich auch. Wissen Sie, wieviel ich im Monat bekomme? Fünfzig Franken. Dabei zahlt die Gemeinde für den Posten hier zweihundert Franken mit freier Kost und Logis. Aber hundertfünfzig Franken gehen ans Mutterhaus. Damit ich ein ruhiges Alter habe, wenn ich arbeitsunfähig geworden bin. Aber bis dann hab' ich noch Zeit...«
Sie hatte während des Sprechens einen Wattebausch mit Alkohol getränkt und den Oberarm des Mannes abgerieben.Dann drang die Nadel unter die Haut. Der Patient stöhnte leise.
»Das tut doch nicht weh ...« Zuerst war die Stimme der Schwester hart gewesen, bei den letzten beiden Worten wurde sie weich. Der Mann hatte die Hand, die die Spritze hielt, ergriffen und hatte sie geküsst.
Das war etwas ganz Ungewohntes für Schwester Klara. Niemand hatte ihr bis jetzt die Hand geküsst. Sie war verlegen, gerührt, und um dies zu verbergen, begann sie sich mit den Leintüchern, mit den Kissen zu schaffen zu machen.
»Sie sind gut, Sister«, sagte der Mann. »Niemand ist gut gewesen mit mir in der letzten Zeit. Und früher? Ich war einmal in einem Sanatorium an der Côte d'Azur, in Cannes. Aber niemand war so gut zu mir wie Sie. Immer haben sie gewartet auf grosse Pourboires – wie sagt man – Trinkgelder. Jetzt ich kann keine Trinkgelder geben. Wer zahlt hier für mich?«
»Ich denk', die Heimatgemeinde«, sagte die Schwester und versuchte, die Auskunft so trocken als möglich zu geben. Es gelang nicht ganz. »Die Heimatgemeinde Frutigen, denn in Ihren Papieren steht doch, dass Sie in Frutigen beheimatet sind.«
»Oh, ich war nie dort. Ich bin aufgewachsen in der Fremde. Werden Sie schreiben gleich an die Gemeinde? Ich möchte lieber zahlen selber. Mein Freund, der ist in Thun, der wird schon schicken mir Geld, wenn ich bin gesund. Sie können warten so lange?«
»Nicht gern«, sagte Schwester Klara. »Aber wenn's sein muss ...«
»Ich wäre Ihnen dankbar, sehr dankbar. Wirklich. Was hat gesagt der Doktor?«
»Eine beginnende Pleuritis, und auch Ihrem Herz geht's nicht besonders. Haben Sie viel geraucht?«
»O ja, früher. Hundert Zigaretten im Tag, wie ich war in England. Viel zu tun hatte ich, und da ...«
»Na, einen Monat wird's schon gehen, bis Sie wieder gesund sind. Wollen Sie nicht Ihrem Freund schreiben?«
»Ja, ich werde schreiben... Danke, Sister.«
Wieder ergriff der Mann Schwester Klaras Hand, aber die Frau zog sie schnell zurück. Es wäre ihr nicht unangenehm gewesen, wenn der Mann ihr wieder die Hand geküsst hätte, und doch wehrte sich etwas in ihr.
Von den Papieren des Mannes hatte Schwester Klara nur den Heimatschein gesehen, ein altes, vergilbtes Blatt, ziemlich schmutzig, das erklärte, Ludwig Armstrong sei als Sohn des Peter Armbruster, genannt Armstrong, am 5. Juli 1880 in London geboren. Der Kranke besass noch eine Brieftasche, die ziemlich vollgepfropft schien, aber die behielt er immer unter seinem Kissen. Schwester Klara bekam den Inhalt nie zu sehen. Einmal nur, an einem sanften Februartage, entnahm der Mann der Brieftasche ein paar Photographien. Ein englisches Landhaus im Hintergrund, im Vordergrund eine Koppel Jagdhunde und ein Mann, dessen Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren. »Das bin ich«, sagte der Mann und wies auf die Gestalt im Vordergrund. »Und das sind Betty und Maisy, meine beiden Hunde. Das ist mein Schloss in Devonshire.« Schwester Klara wusste, dass Devonshire eine Grafschaft oder etwas Ähnliches in England war. Der Mann hatte also doch ein Schloss besessen – obwohl er nicht recht zu erkennen war auf dem Bild, konnte er es doch vielleicht sein. Es war eine Ähnlichkeit vorhanden. Schwester Klara redete es sich ein.
Der Handkuss war übrigens ein bleibender Ritus geworden. Schwester Klara hatte die Bewegung gelernt, mit der elegante Damen diese Huldigung entgegennehmen. Er tat es gerne, obwohl Schwester Klaras Hand rot war und oft nach Desinfektionsmitteln roch.
In den Nächten aber überfielen die Schwester sonderbare Gedanken. Sie war über dreissig,
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