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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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träge ein wenig vor. Metral zog eine Stecknadel aus dem Ärmel seines langen weissen Kittels, fuhr mit der Spitze kreuz und quer über den nackten Oberschenkel des Sitzenden, über den nackten Bauch; es zeigten sich schwache roteLinien, eine Zickzackzeichnung. Die Linien verdickten sich, blieben.
    »Patellar gehemmt, Dermographie«, diktierte der Doktor einem Unsichtbaren. Dann pochte er Rücken und Brust ab, presste das kalte Ohr auf die Herzgegend (Despine klapperte ein wenig mit den Zähnen; »das Bad«, entschuldigte er sich). Mitleidlos diktierte Metral weiter: Lungen o.B., Herz o.B.
    »Schauen Sie meinen Zeigefinger an«, sagte er streng. Der Zeigefinger kam bis zur Nasenspitze Despines, entfernte sich, kam wieder näher. Metral brummte Unverständliches. Der Zeigefinger fuhr von rechts nach links, hinauf, hinunter, Despines schmerzende Augen folgten verzweifelt. Eine Hand legte sich auf das rechte Auge, liess das Auge wieder frei.
    »Pupillarreflex verlangsamt.« Ein Seufzer beendete die Untersuchung.
    »Niemals geschlechtskrank gewesen?« fragte Metral strenger, überhörte das indignierte »nein«. »Alle sagen sie nein, und dann ist der Wassermann doch positiv!« Wieder ein Seufzer.
    »Machen Sie ein Fragezeichen. Blut und Liquid abzapfen.«
    »Natürlich trinken Sie«, er starrte Despine wieder an. »Strecken Sie die Hände aus... Tremor«, bestätigte er sich selbst befriedigt. »Schnaps, Wein, Bier? Nicht wahr? Und wo ist das Geld?« fragte er und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Wieviel war es?«
    »Dreissigtausend«, sagte Despine.
    »Aha«, Metral nickte, »man fängt sie doch alle«, sprach er befriedigt zum Unsichtbaren hinter seinem Rücken. »Das wissen Sie also doch noch, und der Rest war wohl Theater, wie?«
    »Aber nein«, Despine wehrte sich, liess sich zurückfallen und zog die Decke bis ans Kinn. »Das war doch nur ein Traum. Zweimal die Prim, dreimal die Quart, zweimal die Oktav, das macht dreissig und drei Nullen, das sinddreissigtausend, und das kann doch nur Geld bedeuten, denn ich bin Kassier, wie ich Ihnen doch sagte.«
    »Verstellen Sie sich nicht«, sagte Metral väterlich, »es fehlen in Ihrer Kasse dreissigtausend Franken, die Sie im Beisein von Zeugen am 2. April um 2 Uhr 30 Ihrer Schalterkasse entnommen haben, worauf Sie sich unter dem Vorwand, sich zu Ihrem Direktor zu begeben, entfernt haben. Wo sind diese dreissigtausend Franken?«
    Nun stand auch der unsichtbare Diktataufnehmer neben dem Fragenden. Es war eine kleine Gestalt. Als Despine seine Blicke hilfesuchend durchs Zimmer schickte, blieben sie schliesslich auf dieser unscheinbaren Gestalt kleben, wanderten zum Gesicht, das bleich war; in den weissen Ohrläppchen schimmerten goldene Reissnägel, und Despine erkannte, dass er eine Frau sah.
    »Sie müssen ihn nicht mehr quälen«, sagte die Frau.
    »Fräulein Vigunieff, lassen Sie mich in Frieden.«
    »Ich werde ihn morgen fragen«, sagte Fräulein Vigunieff, klemmte Papiere unter ihren Arm und schraubte die Füllfeder zu.
    »Gut.« Metral zog die Lippen zwischen die Zähne. Er schnalzte mit den Fingern, worauf der rote Schnurrbart herbeigeschlichen kam. »Geben Sie ihm Chloral diese Nacht. Ich werde es aufschreiben.« Er ging zur Tür. Das kleine Fräulein Vigunieff zog ein rot und braun gestreiftes Taschentuch aus der Tasche ihrer Arztbluse und wischte die grossen Schweisstropfen von Despines Stirne.
2.
    Frau Nisiow machte dem Untersuchungsrichter Vibert in einem schwarzseidenen Kleid einen Besuch. Sie nannte es Besuch, obwohl es eine Vorladung war. Herrn Viberts Gesicht bestand aus einem riesigen blonden Bart, mit einem Streifen Haut darüber; Mund, Nase und Augen hatten sichnur mühsam den Platz darein geteilt, doch für die Stirne war nichts übriggeblieben.
    »Amélie Nisiow, geborene Petroff, 3. März 1860, Petersburg, verwitwet, Rentnerin, Rue du Marché 23. Stimmt?« Die Worte wurden durch die Barthaare filtriert, so dass sie sauber zu dem Schreiber hinüberrollten, der sie nur nachzuschreiben brauchte.
    Frau Nisiow ächzte ein Nicken. Sie wollte Einzelheiten über ihr Leben erzählen, aber ein: »Unnötig, wir wissen alles« unterbrach sie hart. Die Augen des Herrn Vibert gingen im schmalen Hautstreifen auf und verdrängten die Haut nach allen Seiten. Dann flutete die Haut wieder zurück, und die Augen gingen unter, verschwanden wieder, wie Sterne dreizehnter Grösse.
    »Erzählen Sie, was am Abend des 2. und am Morgen des 3. April vorgefallen ist.«
    »Er

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