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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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ist gekommen heim um 11 Uhr. War noch sehr unruhig in seinem Zimmer. Ich kann nicht gut schlafen, und er hat mich gestört. Am andern Morgen ist er nicht aufgestanden. Ich habe gedacht: komischer Angestellter, er hat sich verschlafen am Vortag schon, er verschläft sich wieder. Habe geklopft an seine Türe.« Frau Nisiow schlug dreimal mit der prallen rechten Faust auf die Fettpolster der linken Handfläche. »Er hat nicht geantwortet. Da habe ich die Türe aufgemacht. Herr Despine ist gelegen nackt auf dem Bett, ganz nackt, ich habe mich geschämt. (›Na, na‹, sagte Herr Vibert, ohne die Augen aufgehen zu lassen.) Ich habe ihn gerüttelt, er ist nicht aufgewacht. Die Augen waren halb zu. Man hat nur gesehen das Weisse. Da habe ich Frau Courvoisier, welche wohnt auf dem gleichen Stock, zum Doktor und zur Polizei geschickt. Und der Doktor und die Polizei...«
    »Weiss ich«, sagte Herr Vibert. »Es fehlen dreissigtausend Franken. Wo ist diese Summe hingekommen?« Da Frau Nisiow schwieg, wiederholte er leise und filtriert: »Wo sind diese hingekommen?«
    »Also, ich habe seine Sachen nicht durchsucht«, wehrtesich Frau Nisiow. Dass ihr Gesicht rot war, braucht wohl nicht erwähnt zu werden, aber sie schwitzte krachend in ihrem Mieder.
    »Wer war, oder besser, was ist die Hexe von Endor?« fragte Herr Vibert, und die Augen gingen wieder auf am bleichen Hautfirmament.
    »Was wissen Sie von diesem Buch?« fragte Frau Nisiow sehr leise. Der Untersuchungsrichter zog eine Schublade auf und hielt einen dünnen Pergamentband in die Höhe, auf dem schwarze russische Buchstaben gemalt waren.
    Frau Nisiows Mieder krachte stärker. »Es ist mein Buch«, sagte sie, »wo haben Sie es gefunden?«
    »Im Bett von Adrian Despine.« Die Augen gingen wieder unter.
    »Er hat es gestohlen, wie er hat gestohlen das Geld.«
    »Ja, aber er weiss nichts von dem Geld, sagt er. Ich habe ihn noch nicht verhört. Ich wollte zuerst Ihre Ansicht wissen. Sie haben keine Ansicht?«
    »Er hat gestohlen das Geld.«
    »Aber wo hat er es hingebracht?«
    »Vielleicht«, sagte Frau Nisiow, zog einen geöffneten Brief aus dem Mieder (auf dem Kuvert war ein roter Zettel, »Express«, deutlich sichtbar) und reichte ihn über den Tisch. Dem Untersuchungsrichter sass plötzlich ein Hornkneifer rittlings auf dem Vorsprung, der die Nase vorstellen sollte. Die Augen gingen wieder auf. Herr Vibert las:
»Deine Wirtin gefällt mir nicht, mein Lieber. Nimm Dich vor ihr in acht. Ich werde am 2. April, abends 8 Uhr, auf der Place du Molard auf Dich warten. Wir können bei mir Tee trinken, denn mein Mann ist verreist. Leb wohl inzwischen
N.«
    »Akten«, sagte Vibert und warf dem Schreiber den Brief mit abgezirkelter Bewegung hin. »Zuerst dem vereidigten Graphologen zeigen. Einiges...« Vibert kämmte seinen Bart, stockte. »Notieren Sie: elegante Frau, Dilettantin in Malerei, leichtes Schielen auf dem linken Auge, kurze Finger,unglückliche Kindheit, Geldheirat, verschwenderisch – erlauben Sie«, er nahm den Brief wieder an sich, »zwei Geburten. Wird nicht schwer zu finden sein.«
    »Despine ist also am 2. April, 11 Uhr nachts, nach Hause gekommen?« fragte Herr Vibert.
    »Ganz sicher, um 11 Uhr.« Frau Nisiow stotterte ein wenig.
    »Warum ist Despine am 2. April erst um 2 Uhr nachmittags ins Geschäft?« – Frau Nisiows Mund wurde breit: »Habe Ihnen schon gesagt, er hat sich verschlafen.« »Verschlafen?« Die ersten zwei Silben tief, die letzte hoch gesprochen, dann war die Rede wieder eintönig. »Warum sollte er sich in der ersten Nacht bei Ihnen verschlafen haben? Ihre Technik ist mangelhaft, Frau Nisiow. Ihr letzter Mieter hiess doch Arthur Abramoff? Und ist noch immer verrückt? Oder? War da nicht auch ein verschwundenes Portefeuille? Ja, ja, die Hexe von Endor.« Als Herr Vibert geendet hatte, war der Hautstreifen zwischen dem blonden Haupthaar und dem rechteckigen Bart ein unbeschriebenes Stück elfenbeingelbes Pergament.
    Die Witwe Nisiow zog sich zurück.
3.
    Dr. Metral: Blau.
    Despine: Rot.
    Dr. Metral: Baum.
    Despine: Ast.
    Dr. Metral: Adler.
    Despine (kurzes Zögern): Schlange.
    Dr. Metral: Mutter.
    Despine (zögert fünf Sekunden): Hexe.
    Dr. Metral: Geld.
    Despine (ohne Zögern): Dreissigtausend.
    Metral: Geliebte.
    Despine (zögert acht Sekunden): Frau (zögert nochmals, als ob er noch etwas zu sagen hätte, Dr. Metral wartet,den Finger an der Stoppuhr, endlich sagt Despine nach neun Sekunden) Tanz.
    Es ist das Ende des

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