Erzählungen
lange offen, so starr aber, dass sie schmerzten. Und die feuchte Hand strich über die Augen, die Stirne war auch feucht. Die Hand strich weiter über den kahlen Kopf; da kam der erste Gedanke: »Wo sind meine Haare?« Nun klappten die Lider hoch, und der Kopf drehte sich von links nach rechts; die Augen sahen drei Badewannen nebeneinander. In der einen stand ein bärtiger Mensch; der Mensch schrie: »Der ›Bund‹, der ›Bund‹, neueste Ausgabe, kaufen Sie mich!« und schlenkerte freundschaftlich die Hand im Gelenk. In der zweiten Wanne lag ein Skelett, ganz dünne Haut war noch über die Knochen gespannt. Der Mund hatte keine Lippen. Er stotterte leise: »Zehntausend Pferde, zehntausend Rinder, dreissigtausend Schafe.«
Dreissigtausend, dachte Despine. Zweimal die Prim, dreimal die Quart, zweimal die Oktav, macht dreissig, unddrei Nullen. Dreissigtausend. Das Zimmer, das er gemietet. Der Geruch nach dem Kampfer, dem Nussöl und der blühenden giftigen Pflanze. Bilsenkraut, Tollkirsche? Er beschnupperte seinen Arm.
Das einzige Fenster des Badraums hatte Milchglasscheiben, davor war ein einfaches Eisengitter. Die Stäbe warfen Schatten auf den Boden, der aus Holzlatten bestand. »Die Zwischenräume lassen das Wasser ablaufen«, dachte Despine mechanisch. Da sagte eine Stimme aus einer Ecke hinter ihm: »Geht es besser?« Er wandte den Kopf mit einem Ruck, spürte ein Reissen im Hinterkopf, so schmerzlich, dass ihm die Augen tränten. Als sie wieder klar waren, sahen sie einen Mann in weisser Uniform, mit einer grossen roten Kautschukschürze. Der Schnurrbart des Mannes war von derselben stumpfen Röte wie die Schürze. Der Mann stand auf und war gross und hager. Mit demselben Zögern auf allen Lippen- und Gaumenlauten, mit schwer rollendem Zungen-r fuhr der Mann fort: »Sehr aufgeregt, letzte Nacht, hat der Nachtwächter gemeldet. Sehr aufgeregt die beiden letzten Nächte. Jetzt geht es besser, nicht wahr?« Despine wollte aufstehen. »Nur liegenbleiben«, der Mann trat näher, drückte Despine in die Wanne zurück. Es war eine schwere Hand, mit roten Härchen bis an die Nägel, schimmernden roten Härchen. Bei der Berührung dieser Hand erkannte Despine, dass er nackt war, und er schämte sich. Er sah die Haut seines Körpers, die weiss war, die Haut an den Fingerspitzen faltig wie bei den Waschweibern. Der »Bund« rief seine Abendausgabe aus. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Despine.
»Das wird Ihnen der Doktor sagen.« Der Mann mit dem roten Schnurrbart streifte die weissen Ärmel über die Ellbogen zurück und hob Despine aus der Wanne, trug ihn in einen grossen Saal und legte ihn sorgfältig auf ein Bett. Hier hatten die Fenster keine Gitter, aber auf den zwölf, nein? dreizehn Betten lagen rotgegitterte Plumeaus. Der Boden war braunglänzendes Parkett, über das Filzpantoffeln, sechs Paar, lautlos glitschten. Despine konnte diedazugehörenden Körper nicht unterscheiden, denn ein dichtbelaubter Ast vor dem Fenster, seinem Bette gegenüber, gab die weisse Sonnenscheibe frei, und er musste die Augen schliessen. Er fühlte noch, dass man ihm ein Hemd aus grobem Stoff anzog, eine sanfte Decke wurde über ihn ausgebreitet.
Das Zimmer war rötlich, als er die Augen wieder aufschlug. Ein runder, glattgeschorener Kopf war kaum eine Spanne weit von seinem Gesicht entfernt, und braune Augen betrachteten ihn wissenschaftlich und teilnahmslos. Dann stieg der Kopf in die Höhe und stand still. Der Mund sprach gemessen die Worte:
»Wie heissen Sie?«
»Despine. Und Sie?«
»Ich bin der Doktor Metral.«
Despine versuchte im Bett eine Verbeugung, die misslang. Die folgenden Fragen nach Alter und Stand beantwortete er klar. Die Frage nach dem Datum war schwieriger, nach einigem Zögern: »1. oder 2. April 1925.«
»Nein«, sagte Metral streng. Despine wurde schüchtern, die Augen zwinkerten. Auch konnte er den Ort, an dem er sich befand, nicht nennen.
»Spital?« fragte er zögernd.
»Tun Sie nicht so naiv«, verwies ihn Metral. Was er in den letzten Tagen gemacht habe?
»Nichts«, sagte Despine erleichtert, »das heisst, meine Arbeit«, und lächelte, Einladung zum Mitlächeln, die der Doktor ablehnte. Er solle sich aufsetzen, verlangte Metral. Das gelang mit einiger Mühe. Die nackten Beine baumelten über dem Bettrand. Metral schlug mit einem kleinen Kautschukhammer auf die weiche Stelle unter der Kniescheibe. Das erstemal blieb das Bein unbeweglich, das zweitemal (Metral schlug energisch) schnellte es sehr
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