Erzählungen
Assoziationsexperimentes.
»Wir machen das Ganze noch einmal«, sagte Dr. Metral. Die Stoppuhr knipst wieder, Dr. Metral spricht das Reizwort. Eintönig und folgsam, wie man es von ihm verlangt, sagt Despine das erste Wort, das ihm in den Sinn kommt. Manchmal muss er warten, bis ihm etwas einfällt; es scheint ihm gefährlich zu warten, während er das Ticken der Stoppuhr hört. Er bemüht sich, das Wort, das ihm einfällt, ohne Betonung auszusprechen; es gelingt ihm manchmal, zuweilen jedoch wird es ein Aufschrei oder eine weinerliche Klage.
»Was sehen Sie da?« fragt Dr. Metral und gibt Despine ein Blatt in die Hand. Darauf hat die Tinte sonderbare ungewollte Formen gezeichnet, eine Klecksographie. Und Metral hat noch sechs derartige Blätter vor sich. Vor dem Blatt, das er in der Hand hält, erschrickt Despine, er stottert »Ein... Hexenritt«, die Augen verdrehen sich, er wird steif, hölzern, fällt dann hintenüber auf den Diwan.
Metral telephoniert auf die Abteilung. Der rote Schnurrbart schleicht nach einigen Minuten ins Zimmer, nimmt die hölzerne Puppe auf seine Arme und schleicht wieder lautlos zur Türe hinaus.
»Wenn er aufwacht, zur Vorsicht ins Bad. Ich komme noch einmal, später, auf die Abteilung.«
Dann geht Dr. Metral zu Fräulein Vigunieff. Sie sitzt in ihrem Zimmer am Fenster und liest in einem abgegriffenen Schmöker: Fantômas, 14. Band, Der Gehenkte von London. In der Ecke spielt das Grammophon ganz leise: Aases Tod. Dr. Metral stellt das Grammophon ab, nimmt den Schmöker aus Fräulein Vigunieffs Händen und gruppiert seine magern Glieder auf einen Lehnstuhl am Tisch. »Was soll ich mit diesem Despine machen?« fragt er. »Ich habe das Assoziationsexperiment gemacht. Komplexempfindlichkeit bei Mutter, Adler. Wie ich den Rorschach mit ihm versuchen will, sieht er einen Hexenritt und fälltum. Vielleicht eine verspätete Reaktion auf Mutter. Mutter hat Hexe ausgelöst; Geliebte: Frau und plötzlich Tanz.«
»Irgendein Trauma«, sagt Fräulein Vigunieff traumhaft und sehnt sich nach Fantômas.
»Trauma, Trauma! Das ist alt, uralt, abgetan, unbrauchbar. Ich brauche ein Gutachten. Und ein Untersuchungsrichter braucht kein Trauma, sondern Verblödung, Tobsucht, Paralyse oder Alkoholdelir. Auch mit Hypnose kann man ihn schliesslich hinter dem Ofen hervorlocken. Aber Trauma. Überhaupt dieser Despine. Rekapitulieren wir: Ein zweiunddreissigjähriger Mann, solid, kleine Liebschaft mit einer verheirateten Frau, die zwei Kinder hat, sehen Sie den niedlichen Mutterkomplex? Ist seit zehn Jahren in der gleichen Bank beschäftigt und bleibt plötzlich an einem Morgen ohne Entschuldigung aus. Er kommt erst am Nachmittag, versieht seinen Dienst sehr zerstreut und scheint auf etwas zu warten. Sowie das Telephon auf dem Pult des ersten Kassiers läutet, stürzt er drauf zu und reisst den Hörer ans Ohr. Die Umstehenden hören ihn sagen: ›Jawohl, Herr Direktor, dreissigtausend in Hunderternoten, sofort.‹ Er geht zu dem ihm zugeteilten Geldschrank und nimmt sechs Päckchen, zu je fünfzig Hundertfrankenscheinen, steckt sie in seine Aktenmappe und stolpert zur Tür. Der Direktor weiss nichts, beschliesst, bis zum nächsten Morgen zu warten, glaubt, Despine sei einer Mystifikation zum Opfer gefallen. Am nächsten Morgen ist Despine bei uns. Nackt, mit Schmutz bedeckt auf seinem Bett gefunden. Haben Sie seine Wirtin, diese Frau Nisiow, schon gesehen?«
Fräulein Vigunieff schüttelt den Kopf.
»Erinnern Sie sich an Abramoff auf D III, der alle drei Wochen ins Dauerbad muss?« fährt Dr. Metral fort. »Der hat auch bei dieser Nisiow gewohnt. Hier hat er ja in der ersten Zeit auch von einer Hexe halluziniert. Jetzt lallt er nur noch. Kein Wunder bei der Paralyse. Aber ein auslösendes Moment muss doch auch hier vorhanden gewesen sein.«
»Was ist das für eine Frau, diese Nisiow?« fragt Fräulein Vigunieff und blättert wieder zerstreut in Fantômas.
»Gross, rot und fett, sehr fett«, sagt Dr. Metral und knetet in der Luft unsichtbaren Teig. »Grüne schläfrige Augen, ein vierfaches Kinn, eine Brust, auf der man bequem Tee für vier Personen servieren kann. Eine Landsmännin von Ihnen, glaub' ich. Und sonst? Zweifellos eine Hysterika. Hat eine Zeitlang bei dem Medium Helene verkehrt, das Kreuzigungen mit den Zehen malt. Unter Despines Körper hat man ein russisches Buch gefunden, der Titel soll übersetzt heissen: Die Hexe von Endor...«
»Die Hexe von Endor –« Fräulein Vigunieff ist plötzlich
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