Erzählungen
interessiert. »Das kenne ich. Der vereidigte Übersetzer hat wohl nichts verstanden. Haben Sie die Übersetzung gelesen? Ja? Erinnern Sie sich: Wer das Blut des weissen Ritters vermählt mit dem Schweiss des Tieres, das geduldig drischt, und gibt dazu den Duft des Baumes, höher schlägt das Herz alsdann, wenn dein Leib umgeben ist von Pflanze, Tier und brennender Luft. Der Herr des Fliegens und der summenden Welt ist um dich, bei dir und in dir. König bist du dem andern im Blau des aufgehenden Mondes.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Metral sachlich, und wundert sich über die Begeisterung des Fräulein Vigunieff.
»Wissen Sie, welche Wirkung Skopolamin in grossen Dosen hat?« fragt Fräulein Vigunieff ironisch.
»Hoffentlich.« Dr. Metral ist gereizt.
»Und Kampferöl kennen Sie auch? Auch Rindsschmalz?«
»Machen Sie sich nicht lustig über mich.«
»Nun, der weisse Ritter klingt doch schöner als Hyoscyamus niger. Wissen Sie was? Überlassen Sie mir den Herrn Despine. Es wird vielleicht drei Monate dauern. Aber dann kann ich Ihnen wohl einen interessanten Beitrag zur Wirkung der Rauschgifte auf den Mutterkomplex liefern.«
Fräulein Vigunieff zieht das Grammophon auf, lässt »Mary Lou, I love you« von Negern singen und vertieft sich in das sonderbare Abenteuer Fantômas, der einen Kautschukschlauch verschluckt, bevor er gehängt wird, was dem DetektivJuve erlaubt, ihn von den Toten zu erwecken, um ihm furchtbare Geheimnisse zu entreissen.
4.
»Haben Sie diesen Brief geschrieben, Madame?« fragte der Untersuchungsrichter Vibert die elegante Dame, die vor ihm sass. Sie schielte auf dem linken Auge, hatte kurze Nägel an den breiten Fingern, und es entströmte ihr ein leichter Terpentingeruch, den Herr Vibert als Beweis seiner graphologischen Fähigkeiten befriedigt feststellte.
»Wir werden Sie nicht belästigen, Madame«, Herr Vibert filtrierte sorgfältig seine Worte. »Wir wollen nur eine Bestätigung. Haben Sie Despine um 8 Uhr getroffen?«
»Herr Despine ist ein Freund meines Mannes und auch ein Schulfreund von mir«, sagte die Dame ärgerlich, »ich habe eine Stunde auf ihn gewartet, aber er ist nicht gekommen.«
»Das wäre alles, Madame. Tiefe Trauer ergreift mich, dass ich Sie habe belästigen müssen. Ich bin deshalb Ihr untertänigster Diener«, sagte Herr Vibert und geleitete die Dame zur Türe hinaus. »Wenn ich nur wüsste, ob sie eine unglückliche Kindheit gehabt hat«, fragte sich Herr Vibert und läutete, um die Witwe Nisiow hereinführen zu lassen.
Die Witwe Nisiow (es war ihre fünfte Vernehmung) hatte schon beim zweiten Male das schwarze Seidenkleid verschmäht und trug sich mausgrau, in einem schlampigen Wollkleid. Und auch das Mieder hatte sie daheim gelassen. Daher sickerte sie über den Stuhl, wenn sie sass. Es war ein erstarrtes Sickern.
»Wir haben jetzt erfahren«, sagte Herr Vibert mit untergegangenen Augen, »dass Adrian Despine am 2. April, um 8 Uhr abends, die bewusste Dame nicht getroffen hat. Ausserdem hat sich bei mir ein Chauffeur gemeldet, der am 2. April um 3 Uhr nachmittags vor dem Hause Nr. 21gehalten und einen Betrunkenen ins Nebenhaus hat torkeln sehen. Der Betrunkene ist ihm aufgefallen, weil er gegen die Hausmauer getaumelt ist und dabei eine Aktentasche hat fallen lassen. Der Chauffeur hat den Mann angerufen und ihm die Tasche wiedergegeben. Dabei hat er bemerkt, dass der Taumelnde gar nicht nach Schnaps oder Wein roch. Er hatte starre, glänzende Augen, mit kleinen Pupillen. Dicke Schweisstropfen rollten die Wangen herab, aber der Mann schien das gar nicht zu fühlen. Die Beschreibung, die der Chauffeur von diesem Manne gab, passt genau auf Adrian Despine.« Herr Vibert hielt inne. Frau Nisiow hatte die Lider über die Augen gesenkt und murmelte Unverständliches.
Das Fenster im Rücken des Herrn Vibert stand weit offen. Plötzlich schlug sich Herr Vibert klatschend auf die Wange; auf dem Schreibtisch krabbelte hilflos eine halberschlagene Bremse, Frau Nisiow murmelte ungestört weiter.
»Eine Bremse im April, sonderbar«, wunderte sich Herr Vibert; im Fenster hinter ihm entstand ein Summen, das anschwoll. Schwarze Striche zogen sich durchs Fenster. Herr Vibert fuchtelte um sich, auch der Schreiber wedelte mit den Aktenblättern. Das Zimmer füllte sich mit Fliegen, Mücken, Wespen, Bienen, fliegenden Ameisen, Libellen. Sie krochen auf dem Schreibtisch herum, fielen klatschend auf den Boden. Das dumpfe Gebrumm grosser Hummeln war deutlich zu
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