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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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d'hôtel.
5.
    In seinem Gutachten über den Fall Despine spendet Dr. Louis Metral dem Fräulein Vigunieff ein verdientes Lob über die Resultate der von ihr gehandhabten Behandlungsweise und gibt den Bericht dieser talentvollen Anfängerin wieder:
    »Ich versuchte bei Despine die sogenannte analytische Behandlung und liess ihn frei assoziieren, das heisst jeden Einfall wiedergeben. Bei vollkommener Ehrlichkeit seinerseits könne ich ihm vollkommene Genesung versprechen. Nach der Aufdeckung des ganzen Sachverhalts liess ich mir von ihm die Erlaubnis geben, den Sachverhalt dem Herrn Untersuchungsrichter mitteilen zu dürfen. Despine war von seiner Mutter abhängig. Sie erzog ihn nach dem Tode seines Vaters und blieb bei ihm bis zu ihrem Tod, der 1915 erfolgte. Despine fühlte sich die folgenden Jahre sehr einsam, es war, wie er sagte, eine grosse Leere in ihm. Er nahm das Zimmer bei der Witwe Nisiow in einem unbewussten Zwang, weil diese seiner Mutter glich. Die kluge Frau merkte sofort den Einfluss, den sie auf diesen Mann gewinnen konnte. Am Abend des 31. März zog Despine bei ihr ein. Sie fand erst spät Gelegenheit, sich ihrem neuen Mieter zu nähern. Nach 11 Uhr empfing sie den Besuch ihres Sohnes aus Paris, der ihr seine Geldnöte klagte. Sie entschloss sich, ihren Mieter zu wecken und ihn um ein Darlehen zu bitten. Um ihn nicht zu erschrecken, summte sie eine Melodie vor sich hin und klopfte an seinem Zimmer, bat ihn dann auf einen Augenblick in ihr Wohnzimmer. Despine kam. Um das Darlehen angegangen, weigerte er sich: Er habe kein Geld. Die Witwe liess das Thema fallen. Despine sprach von seiner Mutter,wie sehr er sie vermisse und wie sehr er sich nach ihr sehne.
    Ich möchte hier einen Traum wiedergeben, den mir der Patient erzählte und der es mir erst ermöglichte, das ganze Erlebnis aus der Verdrängung ans Licht zu ziehen. Er träumte, er stehe auf einer Bergwiese im Mondschein. Um einen aufgestellten Stein tanzten nackte Frauen im Kreise. Eine von ihnen dreht sich plötzlich um und winkt ihm, der abseits steht. Er fürchtet sich, die Gebärde befiehlt ihm, Verbotenes zu tun, er weiss nicht was, aber es ist verboten. Er weigert sich, hat Angst, das Gebotene auszuführen, Angst, es zu unterlassen. Diese Angst lässt ihn erwachen.
    Nach diesem Traum bedurfte es zweier Tage schwerer Arbeit, um den Zusammenhang mit dem eben Erlebten zu finden. Dann erzählte Despine, schon das Summen vor seiner Zimmertür habe ihm wie ein Befehl geklungen. Von der Mutter habe er die Noten gelernt. Damals seien ihm die Intervalle wie Zahlen vorgekommen, er habe mit ihnen gerechnet, sie addiert, wenn sie aufsteigend, subtrahiert, wenn sie absteigend gewesen seien. Diese Erinnerung an Dreissigtausend sei ihm hartnäckig geblieben. Ich erklärte ihm, das sei eine Deckerinnerung, die das Unterbewusste brauche, um sich unangenehme Erlebnisse fernzuhalten. Über einen kleinen Diebstahl, den er als Knabe begangen hatte, kamen wir endlich zum Kern der uns beschäftigenden Angelegenheit.
    Frau Nisiow (Despine assoziiert auf ihren Namen stets den der Giftmischerin Voisin, und sonderbarerweise ist Nisiow die Umkehrung dieses Namens, mit ein wenig geänderter Orthographie) schlägt ihm vor, seine Mutter sehen zu lassen; sie verfüge über geheime Kräfte und könne ihn an den Ort führen, wo die Seele seiner Mutter, an den Körper gebunden, jede Nacht tanze. Despine glaubte dies. Frau Nisiow redet von dunklen Gewalten, über die sie Herrin sei, murmelt Worte dazu, das Zimmer ist erfüllt mit Fliegengesumm. Es sei hier nur bemerkt, dass das Mittelalter den Teufel als Fliegengott kannte. Die Beschwörungsollte am nächsten Tag vor sich gehen. Despine ist ein wenig betäubt. Es ist spät. Am nächsten Morgen verschläft er sich. Am Abend des ersten April, um zehn Uhr schon, beginnt die Beschwörung. Der Sohn ist abgereist. Despine wird mit einer Salbe eingerieben, die wohl Belladonna oder sonst ein Alkaloid enthalten haben mag, wird langsam berauscht, hat die typischen Flugträume, in denen er mit der dicken Nisiow durch die Luft fährt, die Bergwiese sieht und den Befehl seiner Mutter empfängt. Er hat dies Erlebnis während meiner Behandlung in dem vorher erwähnten Traum reproduziert. Vor dem Erwachen bekommt er von der besorgten Witwe noch eine starke Morphium-Kampfer-Einspritzung. Die Witwe erklärt ihm, er müsse dreissigtausend Franken stehlen und ihr bringen, damit sie durch ihre Künste seine Mutter aus dem höllischen Tanz befreien

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