Erzählungen
der Direktor mit dem Wärter. Beide sahen dem Kranken eine Zeitlang zu. Der Krampf löste sich, der Baron blieb ruhig liegen, nur der Mund prustete noch leise. ›Gehen Sie‹, sagte der Direktor zum Krankenwärter; der schloss die Türe hinter sich.
›Wissen Sie, was Sie getan haben?‹ fragte mich der alte Mann. Ich schüttelte den Kopf. Dann erblickte ich den Kalender.
Dezember 22 Mittwoch
stand dort. ›Aber ich bin doch am Montag...‹ weiter kam ich nicht.
›Sie wissen es also nicht?‹ fragte der Direktor noch einmal. Ich schüttelte den Kopf und schluckte den Speichel. Das tat weh. ›Angina und Fieber‹, dachte ich, ›nun ja, ich bin krank, und Kranke bestraft man nicht.‹
Der Direktor nahm einen Spiegel von der Wand und hielt ihn mir vor. Dabei tupfte sein kalter Zeigefinger auf meinen Hals. Ich sah zwei rote Striemen, rechts und links, die schräg nach oben liefen.
›Ja, ja, mit den Hosenträgern‹, sagte der Direktor. ›So etwas sollten Sie nicht machen.‹ Er schüttelte den Kopf. Ich erwartete eine Predigt. Aber er schwieg. Langsam rollte sein gesenkter Kopf über die gestärkte Hemdbrust, und ich hörte das Knistern der Barthaare auf der glatten Fläche. Er legte den Spiegel auf die rote Tischdecke und ging im Zimmer auf und ab.
›Ich will schauen, dass ich Sie im Hause irgendwo beschäftigen kann. Wollen Sie die Bibliothek in Ordnung bringen? Gut. Am Sonntag können Sie wie gewohnt Harmonium spielen ... Warum haben Sie das gemacht?‹
›Die Zelle, Herr Direktor, in der Zelle ... ganz allein ... und dann die Angst ... ich konnte nicht mehr ...‹
›Natürlich.‹ Er nickte. ›Das, was die Ärzte Haftpsychose nennen. Aber was heisst das? Es haben so viele Leute vor Ihnen in dieser Zelle gewohnt. Die Zelle muss ja ganz voll sein ...‹ Er stockte. ›Nun, Sie bleiben jetzt eine Zeitlang im Krankenzimmer. Schlafen Sie sich aus. Wie alt sind Sie eigentlich? Neunundzwanzig?‹ Er öffnete seinen Mund, und starke gelbe Zähne wurden sichtbar. ›Immerhin also‹, der Direktor war ein wenig verlegen, ›Sie werden ja nicht immer hier bleiben. Und draussen gibt es auch noch Ziele. Man muss sie nur suchen. Und nicht nur so ... herumtorkeln.‹
Er ging hinaus. Ich fühlte grosse Zuneigung zu ihm, als ich seinen gebeugten Rücken sah. Hatte ich mich nicht nach einem Meister gesehnt? Der Gedanke ging mir wieder durch den Kopf. Aber dieser alte Mann? Nein, der war nicht der erwartete Meister, von dem ich träumte. Mitleid ist manchmal wohltuend, aber der Meister zeigt kein Mitleid, der Meister zeigt den Weg.
Der Krankenwärter, auch ein Sträfling, der wegen Betrug zu sieben Jahren verurteilt worden war, erzählte mir, was geschehen war. Der Missionar, der jeden Montag die Sträflinge besuchte, war auf seinem Rundgang zufällig in meine Zelle gekommen. Er hatte mich leblos am Fensterkreuz hängen gefunden, hatte Hilfe herbeigerufen. Eine Stunde lang war künstliche Atmung gemacht worden. Die zerschnittenen Hosenträger hatte der Missionar eingesteckt, denn er war abergläubisch.
Am Heiligen Abend lag ich noch im Bett. Ich war sehr schwach und hatte andauernd Kopfschmerzen. Aus der Kapelle drang gedämpftes Singen und der Geruch von angebranntem Tannenreisig.
Am Weihnachtstag sollte ich wieder Harmonium spielen. Um acht Uhr ging ich in die Kapelle, um noch ein wenig zu üben. Es war kalt. Der Dampf zischte eintönig in den Heizungsröhren. Gegen neun Uhr kam eines der Dienstmädchendes Direktors und deckte den Tisch für das Abendmahl. Sie brachte zwei Becher, eine grosse Kanne mit Wein, stellte alles auf den Tisch und wandte sich wieder zur Tür. Erst dort nickte sie mir ängstlich zu. Vielleicht sah ich sehr schlecht aus. Ich spielte dann das Lied vom Weizenkorn: War ich auch nicht gestorben, und sollte ich nun nicht auch zum Lichte emporwachsen? Mein Kopf war leer und finster. Die Töne des Harmoniums quäkten unangenehm, meine Beine waren zu schwach, um die Blasbälge kräftig zu treten. Auf dem Tisch stand eine Kanne voll Wein. Der Geruch drang bis zu mir. Ich stand auf und trank aus der Kanne, nicht viel, niemand sollte es merken. Ob das wohl Gotteslästerung war, dachte ich noch. Dann war nur noch Freude und Kraft in mir. Der Wein war gut und wirkte stark. Meine Gelenke wurden geschmeidig, das Harmonium bekam Klang, und ich griff nicht mehr daneben. Auch mein Hals verlor die Steifheit. Ich übte: ›Tochter Zion freue dich!‹ Das Lied wollte ich als Einleitung spielen und während des
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